DS004 - Das Wrack im Eis
ich ihn schon einmal gesehen.«
»Wie alt waren Sie, als die ›Oceanic‹ hier strandete?« fragte Doc leise.
»Knapp sechs Jahre. Ich hörte, wie die Eskimos davon sprachen, ihren Gefangenen zu töten. Ich begriff nicht ganz, warum, aber ich war so entsetzt, daß ich laut schrie. Dann erschienen Sie.«
»Ich hörte Ihren Schrei«, sagte Doc. Er schwieg sekundenlang. Dann sagte er: »Der Mann mit dem weißen Haar war Ihr Vater.«
Ohne einen Laut sank Roxey Vail bewußtlos zusammen. Doc konnte sie gerade noch auffangen.
War es möglich, daß sie die Besinnung verloren hatte, weil ihr Vater ermordet worden war? Sie schien nicht der Typ, ohne schwerwiegenden Grund das Bewußtsein zu verlieren, soviel glaubte er nach ihrer kurzen Bekanntschaft sagen zu können.
Die sie verfolgenden Eskimos rückten näher. Sie gaben sich keine Mühe, dabei leise vorzugehen. Vielleicht wollten sie ihn auch wie ein wildes Tier aufstöbern und vor sich herjagen, um zu vermeiden, daß er plötzlich und unerwartet zwischen ihnen wütete.
Doc verließ die Stahlkammer. Er jagte, das bewußtlose Mädchen im Arm, über einen langen Gang. In einer Nische entdeckte er einen Wäschekorb, der zerdrückte Kleidungsstücke enthielt. Der Korb war aus Weide geflochten und hatten die Jahre unbeschädigt überstanden.
Doc kippte die Kleidungsstücke auf den Boden und ließ das Mädchen behutsam in den Korb gleiten. Er häufte die Kleidungsstücke wieder in den Korb und schloß den Deckel. Er brauchte nicht zu fürchten, daß Roxey Vail erstickte, denn das Weidengeflecht war luftdurchlässig genug.
Dann wandte Doc sich um und ging den lärmenden Eskimos entgegen. Er zog eine kleine Schachtel aus der Parkatasche und beschäftigte sich mit deren Inhalt.
Er trat in eine Kabine und wartete. Wie eine Schlange zuckte seine Hand vor, als der erste Eskimo auf gleicher Höhe mit der Tür war. Docs Fingerspitzen berührten die fettglänzende Haut des Mannes nur flüchtig, aber der Eskimo fiel besinnungslos zu Boden, als hätte ihn der Blitz getroffen.
Doc löste sich aus der Kabinentür. Seine Finger berührten die nackte Haut eines zweiten Eskimos, eines dritten und noch zweier anderer. Fünf der wohlbeleibten Krieger stürzten zu Boden und blieben reglos liegen, ohne daß es zum Kampf gekommen wäre.
Alle fünf, die Docs unheimliche Berührung gespürt hatten, schienen urplötzlich in tiefen Schlaf gesunken.
Die restlichen Eskimos begriffen nicht, was ihren Gefährten zugestoßen war. Sie bemerkten nur, daß der Bronzeriese übernatürliche Kräfte zu besitzen schien. Die Lust zum Kämpfen verging ihnen. Sie wandten sich um und flohen.
Hastig, sich immer wieder angstvoll umwendend, rasten sie über das Deck. Ihre Füße verfingen sich in Trümmerresten. Wie bei allen abergläubischen Wesen schien sich die Gefahr für sie zu vergrößern, sobald sie ihr den Rücken kehrten. Sie ähnelten verängstigten Kindern, die nachts von einem Friedhof flohen – es konnte ihnen nicht schnell genug gehen.
Zwei Eskimos begingen unfreiwillig Selbstmord, indem sie über das Geländer der ›Oceanic‹ sprangen und sich auf der harten Eisfläche das Rückgrat brachen.
Es dauerte jedenfalls nur Minuten, bis der letzte Eskimo von dem heulenden Blizzard verschlungen war.
16.
Der verschollen geglaubte Passagierdampfer ›Oceanic‹ wirkte wie ein vorweltliches Ungeheuer, das den Tod gefunden hatte. Wohl heulte der Wind noch immer durch das Trümmerfeld von Takelage und Decksaufbauten, wohl klirrte der steinharte Schnee, vom Sturm aufgewirbelt, noch immer wie Trommelfeuer gegen den ragenden Rumpf, aber das unheimliche Wispern und Schlurfen, das so an den Nerven zerrte, war verstummt.
Sich fast lautlos bewegend, begab Doc sich unter Deck. Der dünne Lichtstrahl seiner Stablampe tanzte hierhin und dorthin. Mit dem scharfen Blick seiner goldfarbenen Augen nahm Doc das nun schon vertraute Bild des verlassenen Dampfers auf.
Eine viereckige dickwandige Flasche zog seine Augen an. Er hob sie nicht auf. Es genügte, daß er sich etwas niederbeugte, um das Etikett auf der Flasche entziffern zu können.
Es war eine Parfümflasche. Zwei weitere fand er auf seinem weiteren Weg über den Gang.
Hier war also die Erklärung für den Blumenduft, der von den Eskimos ausgegangen war und ihn so verblüfft hatte. Zu dem charakteristischen Gestank von Tran, Schweiß und Schmutz, der sie ständig begleitete, hatten sie wohlduftende Essenzen gefügt. Eine einzigartige
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