Dschungelkind /
willst. Du bist eine Gefahr für dich selbst. Also, entscheide dich. Wenn ich dich einweisen lasse, werde nur ich entscheiden können, wann du wieder herausdarfst. Wenn du freiwillig gehst, wirst du ein Mitspracherecht haben.« Mit gesenktem Kopf nickte ich: Ich werde freiwillig mitgehen. Ohne Widerstand packte ich einen kleinen Koffer, ging zum Auto und starrte bald gedankenlos auf die dunkle Landschaft, die an mir vorbeiflog. Ohne mich umzusehen, ging ich die Treppen hinauf, klingelte und trat ein in die Abteilung: Geschlossene Psychiatrie.
Das war Anfang Dezember, glaube ich. Ich weiß es nicht mehr genau. Die Erinnerung ist so schwach, so weit weg von der Welt, in der ich jetzt lebe. Ich habe sie verdrängt, diese Erinnerung, habe sie in einer dunklen Ecke versteckt und eine dicke Mauer um sie herum gebaut. Alles war so schwer zu ertragen. Langsam baue ich die Mauer ab, schaue dahinter und sehe Dinge, die ich lieber vergessen möchte. Schreie aus Schmerz, Tränen aus Hoffnungslosigkeit, Angst und Verzweiflung sind darin gefangen. Warum tue ich mir das an, warum lasse ich diese Gefühle nicht da, wo sie schon seit Jahren gelegen haben, verdrängt, gehasst und gefürchtet? Weil die Mauer nicht ausreichte, so hoch ich sie auch gebaut hatte. Immer wieder sickerten Schuldgefühle, Stimmen, die mir mein Versagen vorhielten, hindurch und quälten mich. Sie begleiteten mich Jahr um Jahr, verhöhnten mich und raubten mir jegliche Lebensfreude. Aber es war doch nicht meine Schuld, ich war doch nur ein Kind gewesen, unschuldig, voller Vertrauen und ohne Wissen von der Welt, in der ich lebte.
Diese Schuldgefühle, wie schrecklich sie mich quälen, wie grausam sie Besitz von mir ergreifen.
Ich hatte Zuflucht gesucht in der Welt, in der ich aufgewachsen bin, in der ich Halt gefunden und eine stabile Identität; wollte eine Welt wiederfinden, in der ich mich glücklich und frei fühlte. Langsam jedoch begreife ich, dass auch diese Welt sich allmählich verflüchtigt. Ich werde dazu gezwungen, mir ein neues Zuhause und ein neues Leben aufzubauen, um endlich wieder zu mir selbst zu finden und den Qualen für immer ein Ende zu bereiten.
Deshalb habe ich mich entschieden, von mir zu erzählen, die Geschichte meines Lebens, nachdem ich den Dschungel verlassen hatte.
3
I m Rückblick ist alles, was ich sehe, ein schwarzes Meer an Erinnerungen. Mit geschlossenen Augen versuche ich, Bilder lebendig werden zu lassen, Menschen, Ereignisse, aber ohne Ergebnis. Ich frage mich, warum ich die Vergangenheit nicht da lasse, wo sie war, verborgen, vergraben im tiefsten Keller meines Bewusstseins. Ein Knoten bildet sich in meinem Magen, alles sträubt sich gegen diesen Weg, auf dem ich langsam zurückschreite. Ich habe ja diese Mauer um mich herumgebaut, diesen Schutz gegen Angriffe, gegen Verletzungen. Aber ich weiß, dass ich sie durchbrechen muss, dass ich diesen Weg gehen muss, um endlich Frieden mit mir selbst zu schließen, um endlich die Freiheit wiederzufinden, die im Tumult der letzten achtzehn Jahre verloren gegangen ist.
Wie sehr fühle ich mich zu Orten hingezogen, wo die Sonne scheint, dort, wo mein Herz und meine Gefühle sich aufgehoben fühlen. Aber ist dieses Gefühl von Sicherheit nicht nur eine Illusion, eine flucht aus der Realität? Ich lebe nicht mehr im Urwald, ich lebe nicht bei den Fayu, ich lebe nicht in der Vergangenheit, ich lebe im Jetzt, im Westen, in einem Land, das mir lange fremd war, in einer Kultur, die mich viele Jahre in Angst und Panik versetzt hat. Ich werde mir selbst einen Spiegel vorhalten, denn indem ich das tue, halte ich auch meiner Welt den Spiegel vor.
Es war ein sonniger Tag, die Berge ragten weit in den blauen Himmel hinein. Mit großen Augen schaute ich auf diese Bilderbuchlandschaft, vergessen war die angsterfüllte Reise mit dem Zug in die Schweiz. Meine Haut kribbelte vor Aufregung auf das neue Leben, das mich hier erwarten würde. Immer wieder hatte ich die Prospekte des Schweizer Internats, »Château Beau Cèdre«, bis ins kleinste Detail studiert, hatte mir jedes Bild eingeprägt und versucht, mir vorzustellen, wie es sein würde, mit weißen Mädchen in meinem Alter zusammenzuleben. Ich machte mir Sorgen um meine Kleidung, denn die war bei weitem nicht so modern wie die der Mädchen, die mich auf den Fotos anstrahlten. Wie würden sie wohl mit mir umgehen? Würden sie nett zu mir sein? Freundschaft mit mir schließen?
Ich stand vor der großen Eingangstür, mehr ein
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