Du bist in meiner Hand
Wir können uns glücklich schätzen, ihn gefunden zu haben.«
Ahalya nahm ihre Schwester an der Hand. »Keine Angst«, meinte sie beruhigend.
Sie folgten Kanan über den Marktplatz bis zu einer mit bunten Stoffen geschmückten Gasse. Der Wagen – ein staubiger blauer Toyota – hatte schon bessere Tage gesehen. Unter dem Vorwand, sie bekomme leicht Platzangst, lehnte Ahalya Rameshs Angebot ab, sich mit Sita nach vorn neben den Fahrer zu setzen, und gab ihrer Schwester ein Zeichen, auf die Ladefläche zu klettern. Die Vorstellung, so nahe bei dem narbengesichtigen Mann zu sitzen, war ihr höchst unangenehm.
Kanan ließ den Motor an und legte den Gang ein, dann setzte er den Wagen mit einem Ruck in Bewegung. Nachdem sie sich durch die Straßen von Kovallam gekämpft hatten, nahm Kanan die Schnellstraße in Richtung Chennai.
Die Wellen hatten die landschaftlich vorher so schöne Küstenebene in einen schlammigen Sumpf verwandelt und die Straße in eine Schlickfläche mit einer schnell austrocknenden Sandkruste, die das Vorankommen des Wagens erschwerte. Obwohl hier kaum andere Fahrzeuge unterwegs waren, brauchten sie eine ganze Stunde, um Neelankarai zu erreichen, den südlichsten Vorort von Chennai, und eine weitere Stunde bis nach Thiruvanmiyur, das knapp drei Kilometer vom Fluss Adyar entfernt lag. Die Wellen hatten viele der Gebäude entlang der Küste zerstört, Straßen überflutet, Autos umgeworfen und ganze Flotten von Fischerbooten an Land gespült. Die East Coast Road war voller Fußgänger, und der Verkehr bewegte sich in Schrittgeschwindigkeit.
Knapp einen Kilometer vor dem Flussdelta kam der Verkehr gänzlich zum Erliegen. Lautes Gehupe brach los, und die Fahrer stießen wilde Flüche aus, doch nichts ging vorwärts. Nach zehn frustrierenden Minuten legte Kanan den Rückwärtsgang ein und fuhr auf einer landeinwärts verlaufenden Straße in Richtung Thomasberg. Als sie schließlich bei Saidapet den Fluss überquerten, stand die Sonne bereits tief am Himmel. Die Durchgangsstraßen nördlich des Flusses hatten allem Anschein nach keinen Schaden genommen.
Ihr Fahrer bog nach Osten in Richtung Mylapore und der Küste ab. Das Gewimmel von Autos, Lieferwagen, Bussen, Fahrrädern und Rikschas spendete Ahalya ein klein wenig Trost. Sie warf Sita einen aufmunternden Blick zu.
»Bald sind wir da«, bemerkte sie mit einem Lächeln, das ihre Schwester jedoch unerwidert ließ.
»Wie wird es mit uns weitergehen?«, fragte Sita.
»Das weiß ich auch nicht«, gestand Ahalya.
Erneut kämpfte sie gegen den großen Kummer an, der unaufhörlich an ihrem Herzen zerrte, doch dieses Mal war der Druck zu groß. Tränen brannten ihr in den Augen und liefen ihr übers Gesicht. Während sie Sita in den Arm nahm, versprach sie im Stillen Lakshmi, dass sie alles in ihrer Macht Stehende tun würde, um ihre Schwester zu beschützen. Sie würde ihr wie eine Mutter sein und sämtliche Opfer bringen, die nötig waren, damit Sita eines Tages ein neues Leben beginnen konnte. Von nun an trug sie für ihre Schwester die Verantwortung.
Sie durfte nicht versagen.
Kurz vor sechs Uhr abends kam der Wegen neben einem exklusiv wirkenden Wohnkomplex zum Stehen. Auf die von Bäumen gesäumte Straße fielen bereits lange Schatten, bald würde die Sonne untergehen. Ramesh stieg aus, strich sein Hemd glatt und lächelte die Mädchen mitfühlend an.
»Ich bedauere sehr, dass ich euch nicht die ganze Strecke bis nach Tiruvallur begleiten kann«, erklärte er, »aber ich habe heute Abend einen Termin in Chennai. Ich habe Kanan dafür bezahlt, dass er euch den Rest des Weges fährt.«
Er reichte Ahalya eine Visitenkarte mit seiner Handynummer. »Ich kann euch gar nicht sagen, wie leid es mir tut, dass ihr eure Familie verloren habt. Solltet ihr jemals Hilfe brauchen, dann ruft mich an.« Mit einer kleinen Verbeugung verabschiedete er sich von ihnen.
Kanan sprach kein Wort mit den Schwestern, nachdem Ramesh sie verlassen hatte. Er telefonierte kurz auf seinem Handy, wendete dann den Wagen und fuhr nach Nordwesten, in Richtung Stadtmitte. Sie überquerten den Fluss Kuvam und bogen nach links auf eine der größeren Durchgangsstraßen ab. Kanan steuerte den Wagen durch den dichten Verkehr in Richtung der westlichen Vororte.
Alles sah gut aus, bis sie die Kreuzung an der Jawaharlal Nehru Road erreichten. Abrupt bog Kanan plötzlich nach links in ein Industriegebiet ab.
»Neengal enna seigirirgal?«, fragte ihn Ahalya, während sie an die
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