Du bist in meiner Hand
unsichtbaren Mächte fernzuhalten, die ihre Welt in einen Albtraum verwandelt hatten, schlang Ahalya die Arme schützend um ihre Schwester. Während das Beruhigungsmittel langsam zu wirken begann, kämpfte Ahalya gegen den Schlaf an, doch das Medikament verwirrte ihr die Sinne und ließ ihre Augenlider immer schwerer werden.
Mit letzter Kraft schob sie ihr Handy noch tiefer in ihren Churidar. Dann erlahmte ihre Gegenwehr, und sie verlor das Bewusstsein.
2
Gesteht es offen – Böses treibt sich im Land herum,
dessen geheime Prinzipien uns unbekannt sind.
VOLTAIRE
Kiawah Island – South Carolina
Am Morgen des 26. Dezembers spazierte Thomas Clarke in der Dämmerung am Ufer von Vanderhorst Plantation entlang. Er war der Erste aus der im Strandhaus versammelten Freundesgruppe, der den Tag begrüßte. Am Vorabend hatte ein wildes Weihnachtsbesäufnis stattgefunden, Wein und Brandy waren in Strömen geflossen, und die meisten seiner Kumpels waren am Ende sturzbetrunken gewesen. Thomas hatte sich zurückgehalten, was aber nur daran lag, dass seine Gedanken um ganz andere Dinge kreisten.
Er bereute, dass er von Washington hergefahren war. Es war nicht seine Idee gewesen. Seinem besten Freund aus Studientagen war die Sache mit Priya zu Ohren gekommen, und er hatte ihn eingeladen, Weihnachten auf der Insel zu verbringen. Thomas wusste es zu schätzen, dass Jeremy ihm Gesellschaft leisten wollte, aber der als Ablenkung gedachte Ausflug bewirkte das genaue Gegenteil: Thomas hatte sich schon seit Jahren nicht mehr so einsam gefühlt.
Er ging über die Dünen zum Strand hinunter, wo sich ihm ein malerischer Anblick bot: ein wolkenloser, zartrosa leuchtender Himmel, weiße Gischtkronen auf graublauen, von einem böigen Wind gepeitschten Wellen, und davor ein breiter, sich endlos dahinziehender Streifen weißen Sandes. Er hatte die Hände tief in die Taschen seines Mantels geschoben und stapfte zunächst auf den Rand des Wassers zu, dann wandte er sich nach Osten, dem Wind entgegen. Er war eins achtundachtzig groß, gute achtzig Kilo schwer und ein ausgezeichneter Sportler. Unter anderen Umständen wäre er eine lange Strecke gelaufen, doch an diesem Tag ging ihm zu viel im Kopf herum. Während er in gleichmäßigem Tempo dahinmarschierte, versuchte er seine düsteren Gedanken zu verdrängen, doch schließlich kapitulierte er und sah wieder seine Frau vor sich, wie sie neben dem Taxi stand und ihm Lebewohl sagte.
Ihr Name war Priya, was so viel hieß wie »Liebling«. Er wusste noch genau, wie er diesen Namen nach ihrer ersten Begegnung immer wieder vor sich hin gesagt hatte. Die Unschuld jener Tage erschien ihm mittlerweile geradezu unwirklich. So vieles war passiert, so vieles hatte sich verändert. Die Schläge, die sie einstecken mussten, waren niederschmetternd gewesen, und der Schaden nicht wiedergutzumachen. Der Ausdruck in Priyas Augen, als sie gegangen war, hatte alles gesagt. Jenseits von Bitterkeit, Wut und Verzweiflung – jenseits allen Fühlens – lag ein Ort, an dem man gar nichts mehr empfand. Am Ende hatte sie ihn kaum noch angesehen, sondern eher durch ihn hindurch.
Ihre Geschichte setzte sich aus vielen Einzelteilen zusammen. Einige davon waren durchaus nachvollziehbar, der Rest aber war ein Wirrwarr aus Schuld und Schmerz, schwindender Loyalität und unausgesprochenen Bedürfnissen, und darüber hinaus existierte eine kulturelle Kluft, die sie nie ganz hatten überbrücken können. Aber so lief es im Leben oft: Fester Boden konnte sich ohne Vorwarnung in Treibsand verwandeln.
Thomas erreichte die westlichste Fahrrinne des Ocean Course und machte kehrt. Die winterliche Luft am menschenleeren Strand von Vanderhorst Plantation war eisig kalt, auch wenn die aufgehende Sonne auf dem Wasser etwas Wärme verhieß. Auf dem Rückweg zum Strandhaus legte Thomas noch einen Zahn zu. Er war von einem vielfach ausgezeichneten Sportler und ehemaligen Elitesoldaten der Marines erzogen worden, der mittlerweile als Vorsitzender Richter am Bundesbezirksgericht für den östlichen Bezirk von Virginia tätig war. Der ehrwürdige Randolph Truman Clarke, Jurist mit stählernem Blick und Meister der schnellen Abwicklung von Prozessen, hielt viel von frühmorgendlichen Bestrafungen. Das Ergebnis seiner Erziehung war, dass sowohl Thomas als auch sein jüngerer Bruder Ted morgens regelrecht danach lechzten, kalten Wind auf dem Gesicht zu spüren und in weiter Ferne die Sonne aufgehen zu sehen.
Als Thomas schließlich wieder
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