Du bist in meiner Hand
Scheibe klopfte, die die Ladefläche vom Führerhaus trennte. »Was tun Sie denn da?«
Ohne ihr die geringste Beachtung zu schenken, fuhr Kanan schnell die Schotterstraße entlang. Inzwischen befanden sie sich in einem Viertel mit heruntergekommenen Wohnungen. Rundherum wimmelte es nur so von verdreckten Kindern und räudigen Hunden. In dunklen Hauseingängen standen rauchende Männer, und hin und wieder sah Ahalya auf einer schmalen Terrasse ein älteres Paar, das schweigend nebeneinandersaß. Dies hier war ein Ort, wo die Menschen seit Generationen ein Leben am Rande der Gesellschaft fristeten – ein Ort, wo die Leute wegsahen und keine Fragen stellten. Hier würde ihnen niemand zu Hilfe kommen, wenn sie schrie. Ihr Gefühl hatte sie nicht getrogen. Kanan war kein vertrauenswürdiger Mensch.
Sie fasste in ihren Beutel, um ihr Handy herauszuholen. Ausgerechnet in dem Moment stieg Kanan auf die Bremse und brachte den Wagen zum Stehen. Nachdem Ahalya das Handy hastig in ihrem Churidar versteckt hatte, blickte sie sich um. Der Wagen stand am Ende einer Reihe schäbiger Wohnungen. Über ihnen ragte eine hohe Steinmauer auf. Die Ecke war schlecht beleuchtet, und abgesehen von drei Männern, die in dem schwachen Licht beieinanderstanden, konnte Ahalya keine Menschenseele entdecken. Die Männer traten an die Ladefläche, und der jüngste von ihnen stieg hinauf.
Er beugte sich zu den Mädchen hinunter. »Ihr habt von uns nichts zu befürchten«, erklärte er. »Wenn ihr brav macht, was wir euch sagen, tun wir euch nichts.« Sein Blick fiel auf Ahalyas Beutel. »Was haben wir denn hier?«, fragte er und griff danach.
Ahalya hielt die Tasche fest. Ohne zu zögern schlug ihr der junge Mann mit dem Handrücken ins Gesicht – so fest, dass ihr die Wange brannte und sie Blut auf der Lippe schmeckte. Neben ihr brach Sita in erschrockenes Wimmern aus. Der brutale Schlag war so plötzlich und überraschend gekommen. Ahalya ließ die Tasche los.
Der junge Mann leerte ihren Inhalt auf die Ladefläche, griff nach dem Holzkästchen und öffnete den Verschluss. Der Schmuck funkelte im Lichtschein einer Straßenlampe.
»Kanan, du alter Halunke!«, rief er triumphierend, während er eine von Sitas Halsketten hochhielt. »Sieh mal, was du uns da gebracht hast! Du musst von Ganesha gesegnet sein.«
»Umso besser«, wandte sich Kanan an einen fetten Mann mit pockennarbigem Gesicht, »dann könnt ihr meine Provision gleich verdoppeln.« Der Fette verzog das Gesicht, woraufhin Kanan sofort einen Rückzieher machte. »Schon gut, schon gut, verdoppeln wäre zu viel. Gebt mir das Eineinhalbfache.«
»In Ordnung«, antwortete der fette Mann und blätterte ihm die Scheine hin. »Und jetzt verschwinde.«
Nachdem der junge Mann die Mädchen angewiesen hatte, von der Ladefläche zu steigen, sprang Kanan zurück in sein Führerhaus, ließ den Motor an und düste in einer Staubwolke davon.
Der junge Mann nahm Sita am Arm, während der fette Ahalya nicht von der Seite wich. Der Dritte im Bunde, ein Brille tragender Mann mit einer silbernen Armbanduhr, trödelte hinter ihnen her. Ahalyas Herz klopfte wie wild, als die Männer sie in einen dunklen Gang und dann eine Treppe hinaufführten. Die Tür zu einer Wohnung stand offen. Über der Tür war ein Hamsa-Glücksbringer aufgehängt, als Talisman gegen den bösen Blick.
Die Männer scheuchten die Mädchen ins Wohnzimmer, wo eine übergewichtige Frau auf der Couch saß und fernsah. Sie blickte nur kurz zu den Mädchen auf, ehe sie sich wieder ihrer Sendung zuwandte. Der junge und der fette Mann verabschiedeten sich per Handschlag von dem Brillenträger, den sie Chako nannten. Dabei sprach der fette Mann kurz mit Chako, aber so leise, dass Ahalya nichts verstand außer der Ankündigung des fetten Mannes, am Morgen wiederzukommen.
Nachdem Chako sich von den anderen verabschiedet hatte, schloss er die Tür und legte zwei Riegel vor. Anschließend wandte er sich mit ausdrucksloser Miene an die Mädchen.
»Habt ihr Hunger?«, fragte er.
Ahalyas Magen knurrte. Der Gedanke an Essen war ihr in den letzten Stunden überhaupt nicht gekommen. Sie wechselte einen Blick mit Sita, ehe sie Chakos Frage mit einem Nicken beantwortete. Chako drehte sich zu der Frau um und richtete in Tamil einen harschen Befehl an sie, woraufhin die Frau sich von der Couch erhob, den Mädchen einen gereizten Blick zuwarf und in Richtung Küche davonstapfte.
Wenige Minuten später tauchte sie mit zwei dampfenden Tellern Reis
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