Du Durchschaust Mich Nicht
möchte ich dir verraten. Stell dir vor, du bist bei einer meiner Lesungen zu diesem Buch. Ich sitze vor den Zuhörern an einem Tisch, auf dem mein Buch liegt, außerdem steht eine Flasche Wasser bereit. Nach der Begrüßung werde ich erst ein bisschen »zaubern«, denn ich zaubere wahrscheinlich besser, als ich vorlese, und so bist du mir hoffentlich wohlgesinnt für den Rest des Abends. Ich kündige an, eine Münze, die ebenfalls auf dem Tisch bereitliegt, vor deinen Augen verschwinden zu lassen.
Ich umhülle die Flasche mit einer Stoffserviette, halte sie mit der Serviette oben am Hals fest und stelle sie auf die Münze. Dann zähle ich bis drei. Jetzt soll die Münze verschwunden sein. Zum Beweis bewege ich die Münze zur Tischkante vor mir, und man sieht: Die Münze ist noch da! Hat nicht geklappt, also noch mal! Flasche wieder über die Münze, und eins, zwei, drei: »Die Münze ist verschwunden!« Ich sage es, aber ich zeige es nicht. Diesmal lasse ich die Flasche über der Münze, die – o Wunder! – noch immer da ist, was aber keiner sehen soll, und zähle erneut bis drei: »Tatataaa! Die Münze ist wieder da!«
Ich erkläre dem Publikum noch: »Ich habe die Münze verschwinden und wieder erscheinen lassen!« Die Flasche ist vor mir an der Tischkante. In diesem Moment haben alle Zuschauer den Blick auf die Münze gerichtet, dann beginnen sie zu lachen oder den Kopf zu schütteln, du auch, und diesen Moment nutze ich für die eigentliche Illusion.
Denn jetzt erwartet niemand einen Effekt, aber gerade jetzt setze ich ihn um: Ich werde die Flasche scheinbar den Tisch durchdringen lassen, dazu muss ich sie aber zuerst heimlich unter den Tisch befördern. Deshalb auch die Tischdecke. Meine rechte Hand wartet unterhalb der Kante; die linke Hand, die sich dabei nicht bewegt, lässt die Flasche unbemerkt in die rechte rutschen, hält dabei die Stoffserviette aber so fest, als wäre die Flasche immer noch darin.
Niemand hat gesehen, dass die Flasche nicht mehr in der Serviette ist. Ich sage so etwas wie: »Okay, noch ein letztes Mal! Schauen Sie genau hin!« Bei diesen Worten stellt meine linke Hand »die Flasche«, die eigentlich gar nicht mehr da ist, auf die Münze und zählt wieder bis drei. Während die rechte Hand sich mit der Flasche unter den Tisch auf Höhe der Münze bewegt, drückt die linke die Serviette hinunter, und es sieht so aus, als ob die Flasche durch den Tisch gedrückt würde. Sobald die Flasche den Tisch scheinbar komplett durchdrungen hat, lasse ich sie von unten kurz gegen den Tisch knallen, um die Illusion akustisch noch zu unterstützen. Diesmal gibt es Applaus!
Der Effekt des Durchdringens lässt sich auch gut in Illusionen umsetzen, die ich im Alltag zeigen kann, zum Beispiel an einem Imbisswagen. Ich kaufe mir ein Getränk in einer dieser kleinen Kunststoffflaschen, öffne sie, trinke sie leer und schüttle die Flasche und den Verschluss, die ich beide getrennt voneinander in einer Hand halte. Daraufhin gebe ich sie dem Imbissverkäufer zurück. Allerdings ist der Verschluss jetzt in der Flasche. Jetzt schüttelt auch er die Flasche, aber es hilft nichts, die Verschlusskappe passt ja nicht durch den Flaschenhals. Er angelt mit dem Finger danach, ebenfalls Fehlanzeige. Beim Drehen der entsprechenden
Street Magic
-Folge guckte mich ein Budenbesitzer mit großen fragenden Augen sprachlos an. In genau diesen Momenten liebe ich meinen Beruf über alles. Dann werden selbst harte Kerle auf einmal wieder zu Kindern.
Leider wird Illusionskunst nicht nur zur Unterhaltung und zur Freude der Menschen eingesetzt. Während ich über den Effekt des Durchdringens nachdachte, fiel mir plötzlich wieder der Film von einem Wunderheiler ein, den ich mal im Netz entdeckt habe. Ein Wunderheiler, der einem angeblich Todgeweihten mit bloßen Händen das böse Geschwür aus dem Körper operierte.
Ich erinnere mich nicht mehr genau an jede Einstellung, aber ich kann mir gut ausmalen, wie solch eine Illusion inszeniert wird, damit die Finger auf wundersame Weise in den Körper des Patienten eindringen können, ohne dass dieser dabei Schmerzen verspürt. Und nach der Operation schließt sich die Wunde, ohne dass eine Narbe zurückbleibt.
Wie das funktioniert? Ich entwerfe mal ein mögliches Szenario. Nehmen wir an, der Patient ist nicht gefakt. Der vermeintliche Wunderheiler wird den von der Kleidung freigelegten Bauch des Patienten zunächst mit etwas Watte abtupfen und dann so tun, als dringe er
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