Alera 01 - Geliebter Feind
PROLOG
Der erste Junge verschwand am Tag seiner Geburt. In einer Nacht, in der sich der blassgelbe Mond am Firmament rot färbte und den ganzen Himmel mit der grausigen Farbe von Blut überzog. In derselben Nacht, in der das Königreich Cokyri unvermittelt seine erbarmungslosen Angriffe einstellte.
Im Lande Hytanica verschwanden indessen aus den Dörfern weitere kleine Jungen. Der König schenkte dem törichterweise keine Beachtung und suchte nach keiner Erklärung. Aus Angst, Cokyri würde das brutale Gemetzel fortsetzen, kümmerte er sich vornehmlich um die Erneuerung der Verteidigungsanlagen seines Reiches. Er war erst gezwungen, davon die gebotene Notiz zu nehmen, als schließlich auch Kinder innerhalb der Stadtmauern verschwanden. Man stellte die genaue Zahl der Vermissten fest, doch bevor Gegenmaßnahmen beschlossen waren, hörten die Entführungen so plötzlich auf, wie sie begonnen hatten. Das letzte hytanische Kind, das plötzlich wie vom Erdboden verschluckt war, war der neugeborene Sohn eines reichen Barons und seiner Gemahlin.
Eine Woche später, der blutende Mond war bereits im Abnehmen begriffen, fand man die verwesten Leichen der Kinder vor den Stadttoren. Die letzte Rache des schlimmsten Feindes, den Hytanica je gekannt hatte. Trauernde Eltern trugen die sterblichen Überreste ihrer Söhne fort, doch ein Rätsel sollte für viele Jahre ungelöst bleiben: Neunundvierzig Babys waren entführt,doch es waren nur achtundvierzig Leichen zurückgebracht worden.
Niemand wusste, warum die Cokyrier sich aus dem Land zurückgezogen hatten und es ihnen nicht gelungen war, Hytanica und sein Volk zu zerstören. Im Kampf und strategisch waren die Cokyrier den Hytaniern überlegen. Außerdem scherten sie sich im Krieg um keinerlei Ehrenkodex. Dennoch war Hytanica nicht gefallen. Manche glaubten, der Feind hätte aus Resignation aufgegeben, nachdem er dem Sieg mehrmals ganz nahe gewesen war. Andere meinten, die Herrscher von Cokyri hätten endlich Hytanicas Gründung akzeptiert.
Der Sage nach soll der erste König von Hytanica, als er nach Möglichkeiten suchte, sein neues Reich zu schützen, von seinen Priestern den Rat bekommen haben, mit dem Opfer von unschuldigem königlichem Blut den Boden zu weihen und sein Land damit unbesiegbar zu machen. Nach langen Seelenqualen soll dieser König seinen eigenen kleinen Sohn getötet und sein geliebtes Volk mit Tropfen von seinem Blut an allen Grenzen des Landes für immer geschützt haben.
Ich selbst kam kurz vor Ende des Krieges zur Welt, als Kronprinzessin Hytanicas. Nachdem mein Volk sich im lang ersehnten Frieden eingerichtet und Normalität eingekehrt war, wurde ich den Menschen präsentiert. Ich wuchs in einer Freiheit zu einer jungen Frau heran, die die kriegsgeplagten Generationen vor mir nie gekannt hatten. Doch alles Schöne geht einmal zu Ende, und genau hier setzt meine Geschichte ein.
1. DIE ERSTE WAHL
»Ich fürchte, ich muss mich übergeben.«
Ich lief vor dem kalten Kamin auf und ab, der fast eine ganze Wand meines Salons einnahm, und verschränkte die Arme. Meine jüngere Schwester, Prinzessin Miranna, hatte sich in ihre Gemächer zurückgezogen, nachdem sie mich umarmt und mir versichert hatte, ich würde einen wundervollen Abend verbringen. Hübsch und rosig mit ihren gerade mal fünfzehn Jahren und den erdbeerblonden Locken, die ihr bis auf den Rücken hinabfluteten, war sie in den Mann, den ich an jenem Abend zum Essen treffen sollte, viel verliebter als ich. Zweifellos hatten Gerüchte von einer Romanze sie dazu bewogen, meine Kammerfrau fortzuschicken, sodass sie selbst mir zur Hand gehen konnte. Das grau schimmernde Kleid und das kostbare silberne Medaillon waren Mirannas Idee gewesen. Mein Haar, das mir sonst bis über die Schultern fiel, hatte sie zu einem lockeren Knoten aufgesteckt und nur ein paar feine Strähnen herausgezupft, die meine ebenmäßigen Züge etwas weicher erscheinen ließen. Jetzt wartete nur noch London, mein Leibwächter und Angehöriger der königlichen Elitegarde, mit mir in dem prachtvoll eingerichteten Zimmer.
»Du wirst dich nicht übergeben, Alera. Versuch doch, dich zu entspannen«, riet London mir und hob belustigt eine Augenbraue. Er trat an das Sofa, nahm eines meiner Bücher vom Beistelltisch und blätterte abwesend darin.
»Wie soll ich überhaupt einen Bissen zu mir nehmen?«, fragte ich mit einer Stimme, die in meinen eigenen Ohren schrill klang. »Ich glaube nicht, dass ich das durchstehe.«
»Alles
Weitere Kostenlose Bücher