Du findest mich am Ende der Welt
Euphorie und
nervöser Unruhe schwankend, und die ausgedruckten Mails der Principessa mit in
mein Bett nahm, um sie wieder und wieder zu lesen und mich an einzelnen
Formulierungen zu berauschen.
So verging die Zeit, und ich kann nicht einmal sagen, ob sie
rasend schnell verging oder gar nicht. Es war eine Zeit auÃerhalb jeder Zeit,
und ich fieberte jenem Tag entgegen, an dem mir die Principessa diesen einen,
letzten Brief schreiben würde, auf den ich so sehr hoffte.
Dann kam der achte Juni, ein strahlend schöner Tag.
Es
war der Tag, an dem ich die Principessa beinahe für immer verloren hätte.
Als ich früh am Morgen mit einem freudig-aufgeregten Gefühl die
Vorhänge meines Schlafzimmers zurückzog und in einen wolkenlos blauen Himmel
schaute, gab es nichts, was mich auf die Katastrophe vorbereitet hätte, die
sich abends auf der Ausstellungseröffnung ereignete.
Und selbst als mich auf dem Höhepunkt dieser gelungen Vernissage,
deren unbestrittener Mittelpunkt Soleil Chabon in einem bodenlangen
klatschmohnroten Kleid war, eine junge Frau auf den Mund küÃte, ahnte ich noch
nicht, daà das Duc de Saint-Simon zum wiederholten Mal der Schauplatz für ein
Drama werden sollte, an dem ich nicht ganz unschuldig war.
Zunächst jedoch war alles wie immer. Natürlich nicht ganz wie immer,
denn egal wieviele Ausstellungen man schon auf die Beine gestellt hat, da ist
immer diese kleine nervöse Anspannung, die sich erst dann legt, wenn jeder Gast
ein Glas in der Hand hält, wenn man seine launige Ansprache gehalten hat und
die Kulturredakteure mit wichtiger Miene um die Exponate kreisen. Wenn man es
bis hierher geschafft hat, kann es auch nicht mehr passieren, daà der Künstler
in letzter Minute durchdreht und â von hysterischen Selbstzweifeln oder
exorbitanter Erregung erfaÃt â plötzlich nicht mehr kommen will.
Und dann fällt â ähnlich wie bei einem Chirurgen, der nach einer
schwierigen Operation anschlieÃend auf dem Stationszimmer den kleinen Tod in
den Armen der OP-Schwester sucht â alle Anspannung mit einer solchen Wucht von
einem ab, daà man manchmal über die Stränge schlägt und unüberlegte Dinge tut.
Ich war bereits am Nachmittag ins Hotel gefahren, um die letzten
Vorbereitungen zu treffen. Dort hatte ich eine völlig überdrehte Soleil davon
abgehalten, einige ihrer Bilder in letzter Minute noch abzuhängen.
» Câest de la merde! « hatte sie düster vor
sich hingemurmelt und auf eines ihrer Werke gestarrt, das ihr nicht mehr gefiel.
»Das ist doch ScheiÃe!«
Mademoiselle Conti war mir in der Eingangshalle aufgeregt
entgegengelaufen. In ihrem duftigen Empirekleid aus nachtblauem Chiffon, das
ihre nackten Beine umspielte (an denen Cézanne sicherlich sofort begeistert
geschnüffelt hätte, hätte ich ihn nicht bei Madame Vernier gelassen, die wieder
zu Hause war), erkannte ich sie erst auf den zweiten Blick. An ihren
Ohrläppchen zitterten tropfenförmige Saphire, ihre FüÃe steckten in
silbergrauen Ballerinas, und sie schwebte mir entgegen wie eine kleine
Gewitterwolke. »Monsieur Champollion, kommen Sie schnell, Mademoiselle Chabon
ist verrückt geworden«, rief sie.
Ich trat rasch in den Salon, wo die meisten Exponate hingen.
»Soleil, jetzt reià dich zusammen«, sagte ich bestimmt und zog die
Artista mit sanfter Gewalt von dem Objekt ihres Unmutes weg. »Was soll das
sein, was du hier treibst â neurotischer Realismus?« Soleil lieà die Arme
hängen und sah mich an wie Camille Claudel kurz vor ihrem Abtransport in die
Nervenheilanstalt. »Die Bilder sind grandios, du hast niemals bessere gemalt.«
Soleil lächelte miÃtrauisch,
aber immerhin, sie lächelte.
In einer Viertelstunde hatte ich sie so weit beruhigt, daà sie sich
zu einem der Sofas führen lieÃ, wo ich ihr ein Glas Rotwein aufdrängte.
Doch erst als Julien dâOvideo auftauchte, besserte sich ihre
Stimmung wirklich. Man konnte direkt dabei zusehen, wie sie vom verzagten
Mädchen zur stolzen Königin wurde, die ihre Bewunderer mit einem strahlenden
Lächeln beschenkte. Abgesehen von diesem kleinen Zwischenfall hätte der Abend
nicht besser laufen können. Alle waren gekommen, wichtige Leute, nette Leute
und die unvermeidlichen rats dâexposition , jene
Besessenen, die man auf jeder Vernissage sieht, egal, ob sie eingeladen sind
oder
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