Du findest mich am Ende der Welt
getippt.
Am Anfang war es das Spiel gewesen, was mich reizte. Doch mehr und
mehr â und so unglaublich es klingen mag â hatten sich meine zielgerichteten
Sätze verselbständigt, sich losgerissen von meinem Verstand, sie führten ein
eigenes, ungezähmtes Leben, sie hatten sich mit Empfindungen gefüllt, und mit
einem Mal fühlte ich die Worte, die ich schrieb.
Unruhig stand ich auf und ging zu dem verglasten Bücherschrank. Ganz
unten standen meine alten Photoalben. Ich holte sie hervor, setzte mich in den
Sessel und blätterte in den vergilbten, kartonierten Seiten. Ich war mir selbst
nicht sicher, aber vielleicht hoffte ich, ein altes Klassenphoto zu finden, auf
dem Lucille zu sehen war. Zwei Jahre nach jenem unglücklichen Sommer war
Lucille, von der ich nicht einmal mehr den Nachnamen wuÃte, mit ihrer Familie
in eine andere Stadt gezogen. Nachdenklich klappte ich das Photoalbum zu. Hatte
mich meine Vergangenheit eingeholt? Und wenn ich es mir hätte aussuchen können,
wäre Lucille dann wirklich meine erste Wahl? Und welche Lucille wäre es dann â
die von damals oder die von heute? Bruno hatte schon recht, die Menschen
verändern sich, und die Erinnerung ist nicht immer der beste Ratgeber.
Der Rotwein machte mich philosophisch.
Ich glaube, es war an jenem Abend, als ich beschloÃ, die Sache auf
mich zukommen zu lassen. Natürlich war ich neugierig auf die Frau, die mir
diese Briefe schrieb, natürlich brannte ich darauf, herausfinden, wer sie war,
wie sie aussah, wie sie sich anfühlte. Aber als ich da so unruhig und seltsam
aufgewühlt zwischen den Zeiten und den bespannten Wänden meines Wohnzimmers
auf- und abging, kam mir zum ersten Mal in den Sinn, daà es nun wirklich die
Verfasserin der Briefe war, für die ich mich interessierte, ja, nach der ich
verlangte â egal, welchen Namen sie trug!
Eine Stunde war vergangen, seit ich meinen letzten Brief abgeschickt
hatte, und ich hatte â ungelogen â fünfunddreiÃigmal in meine Mailbox geschaut.
Als ich zum sechsunddreiÃigstenmal
vor meinem Computer stehenblieb, hatte die Principessa geantwortet.
Betreff: Ich komme â¦
Mein lieber Duc!
Wenn Sie da so sehnsüchtig vor Ihrem Bildschirm
sitzen und auf eine Antwort von mir hoffen, kann ich ja gar nicht anders, als
Ihnen sofort zurückzuschreiben.
Auch ich bin sehr froh, daà die Nasenfrage nun
geklärt ist, und möchte, falls da bei Ihnen ein letzter Rest des Zweifels
bestehen geblieben ist, auch diesen zerstreuen: Ich bin nun wirklich alles
andere als eine häÃliche Kröte! Wenn Ihr Blick nicht so verstellt gewesen wäre,
hätten Sie das schon längst bemerkt. Manche Dinge erschlieÃen sich eben erst
auf den zweiten Blick, der bisweilen etwas tiefer geht als der erste.
Ich bin entzückt, daà mein »kühner Streich«
gelungen ist. Und wie Sie schon so richtig vermuten, ist es kein Zufall, daÃ
ich gerade Miss OâMurphy als Platzhalterin gewählt habe. Ich weià schon, daÃ
ich nicht nur Ihren Ohren, sondern auch Ihren Augen ein biÃchen Nahrung geben
muÃ, mon Duc, und da müssen Sie es mir schon nachsehen, daà ich ein Motiv
gewählt habe, das Ihre erotische Phantasie beflügelt, auch wenn Sie jetzt über
den »Wurstzipfel« schimpfen.
Und nein â ich habe keine Angst! Nicht vor der
lustvollen Rache, die Sie mir in Ihrem letzten Brief in Aussicht stellen, noch
davor, das süÃe Versprechen, das ich Ihnen mit dem Boucher-Bild schickte,
einzulösen.
Beides kann ich kaum erwarten.
Nun komme ich zu Ihnen, mein süÃer Duc, Ihr
Wunsch ist mir Befehl! Diese Nacht gehört nur uns!
Lassen Sie Ihre Hand doch einfach weiterwandern,
über alle erlaubten und unerlaubten Stellen, und dann irgendwann, zu einem
Zeitpunkt, der mir genehm ist, werde ich diese Ihre Hand ergreifen und sie
zwischen meine Schenkel legen â¦
Schlafen Sie wohl!
Die Principessa
Ich weià nicht, wohin mir das Blut zuerst
schoÃ, als ich zum Ende des Briefes kam. Ich stieà mich von der Kante des
Schreibtischs ab, fiel erregt in den Sessel zurück und atmete laut aus. Es war
unglaublich! Dieser Brief war schlimmer als jedes noch so kühne Bild eines
Malers, hieà er nun Boucher oder anders. Ich griff zu meinem Glas und schüttete
den restlichen Rotwein in einem Zug hinunter. An Schlaf war nun nicht mehr zu
denken. Aber auch die Principessa, das schwor
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