Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
nicht sehr wahrscheinlich, dass Storm polnische Vorfahren hat. Johann Casimir Claus wurde am 21. Oktober 1729 in Moringen bei Hannover geboren. Das wissen wir von Storm selber.
Hinter alledem steckt vermutlich Storms lebenslange Angst vor der Vererbung ungünstiger Charakteranlagen. Als er diesen Brief schrieb, sah er womöglich vor seinem geistigen Auge die fetten Alkoholgestalten , wie er sie in einem Brief an seinen jugendlichen Freund Ferdinand Tönnies (15. Mai 1872) beschrieben hatte. Ekel und Abscheu empfand er, wenn er sah, wie Menschen sich selber und ihre Nächsten von »König Alkohol« zu Grunde richten ließen. In der Novelle »Der Herr Etatsrat« (1880) schildert er voller Hass und Verachtung einen Alkoholiker, den Etatsrat Sternow. Als Storm den Brief an Emil Kuh verfasste, könnte auch die Frage seine Gedanken begleitet haben, ob die Alkoholsucht seines ältesten Sohnes Hans (1848–1886) etwa der polnischen Verwandtschaft entsprungen sei.
Storms Großvater aus Westermühlen war ein kluger, vielseitig interessierter Müllersmann; ihn beschäftigten nicht nur Wind und Wasser, die Energielieferanten für den Mühlenbetrieb, sondern auch Sonne, Mond und Sterne, und er wollte wissen, welche Antworten die astronomische Wissenschaft geben konnte. Bald fiel ihm der gescheite Kopf seines Sohnes Johann Casimir auf; den schickte er nach der Dorfschule aufs Gymnasium nach Rendsburg, dann weiter auf die Gelehrtenschule nach Husum. Hier schloss der Junge Freundschaft mit Ernst Esmarch (1794–1875), dem späteren Bürgermeister von Bad Segeberg, der später sein Schwager wurde und noch später der Schwiegervater seines Sohnes Theodor.
Casimir Storm und Ernst Esmarch studieren zusammen in Heidelberg Jura; sie besuchen Johann Heinrich Voß, den Übersetzer der »Odyssee« und »Hainbund«-Freund von Esmarchs Vater, der ihnen dann im Reblaubgange seines Hauses im Schlafrock und mit der spitzen Schlafmütze, seine lange Pfeife rauchend, entgegenkam – wie mein Vater meinte, ein etwas griesgrämiger Herr . Nach dem Studium in Heidelberg und Kiel besteht Johann Casimir 1814 sein juristisches Examen. Er wird Gerichtssekretär beim Amthauptmann von Levetzow in Husum. 1815 lässt er sich hier als Advokat nieder, 1816 heiratet er Lucie Woldsen.
Ein ganzes Wald- und Mühlenidyll sieht Theodor Storm, wenn er an Westermühlen denkt. Es rauschte und klapperte in der Wassermühle, die er sich zu seinem Hauptquartier erkoren hatte. Bienen summten im Immenhof , Obstbäume standen im Garten, in der dunklen Küche staunte er, wie Möddersch Marieken den in der Pfanne prasselnden Pfannkuchen plötzlich in die Höhe schleuderte . Ein weißes Teegeschirr von roten Blumen bemalt stand im Schrank. Er durchstreifte die nahebei liegenden Wälder, die Osterham und Mittelham und Westerham (Ham=Wald) hießen; Westermühlen lag mittendrin.
Hier betritt er ein Stück Landschaft, das es in Wirklichkeit gar nicht gibt, sondern nur in seiner Vorstellung, die sich erinnert. Hier sah ich zum ersten und letzten Mal in meinem Leben eine von den großen smaragdgrünen Eidechsen. Sie saß auf einem Baumstumpf und sah mich wie verzaubert mit ihren goldnen Augen an, schreibt er weiter an Mörike. Zauber eines Sommermittags, in dem sich die Eidechse sonnt. Der Mittagsgott verrückt die Lösung
ins Rätsel und die Wirklichkeit ins Märchen. In der Eidechse steckt der Schreckenszauber des Mittagsgottes, sie verwandelt Raum und Zeit zu imaginären Größen, in denen die Realität gleich null und nichts ist und die Vorstellung unendlich und alles. Der Eindruck, den diese Eidechse hinterlässt, ist darum tief und unvergesslich. In seiner Novelle »Im Schloß«, die er 1861 in Heiligenstadt schreiben wird, schildert er noch einmal das Abenteuer mit der Eidechse; fast wörtlich überträgt er die Briefpassage in den Novellentext. Ob Storm sich eine Kopie angefertigt hatte? Die smaragdgrüne Eidechse verwandelt er in der Novelle in eine glänzend grüne . Hier wie dort aber steht am Ende die fassungslose Frage nach dem Ort des Geschehens: Wo aber bin ich damals denn gewesen?
In Westermühlen schoss der junge Storm einen Storch vom Baum herunter, hier ging ich mit des Onkels großem Hund zu Walde und lag dort
dem Krammetsvogelfang [Wacholderdrosseln] ob (siehe in meinen Gedichten ›Waldweg‹). Kam dann mein Vater mich abzuholen, so wurde ein Krammetsvogelschmaus gehalten. Dem Vater, der hier, in Wald und Feld, namentlich als Vogelsteller, eine so anmuthige
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