Du lebst, solange ich es will
kennen. Wahrscheinlich denkt man einfach irgendwann, man würde sie kennen, wenn man ihr Foto ständig in der Zeitung und im Fernsehen sieht. Als wäre sie darauf echt. Das Seltsame ist - je länger Kayla verschwunden ist, desto unwirklicher kommt sie mir vor.
»Nicht, dass ich wüsste.« Damit die Leute mir keine weiteren Fragen stellen, versuche ich klarzumachen, dass ich nicht auf dem Laufenden bin.
»Es muss schwer sein«, sagt sie und findet schließlich ihren Geldbeutel.
Gut möglich, dass sie mir ein ordentliches Trinkgeld geben würde, wenn ich feuchte Augen hätte oder irgendetwas über Kayla und meine Gefühle sagen würde.
Doch ich zucke mit den Schultern. Und bekomme nur einen zerknitterten Dollarschein als Trinkgeld.
»Wir beten alle für Kayla«, sagt sie, als ich schon die Stufen hinuntergehe. Ich frage mich, ob das irgendetwas bringt.
Gaby ist sich sicher, dass Kayla noch lebt. Aber selbst wenn sie recht hat, will ich gar nicht darüber nachdenken. Denn wenn sie noch lebt, wird sie nicht einfach irgendwo herumspazieren, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen ist.
Wenn Kayla noch am Leben ist, frage ich mich, ob sie es auch sein will.
Der siebte Tag
GABY
Als ich höre, wie die Hintertür hinter Drew zuschlägt, fasse ich an meine Schürzentasche und taste nach dem harten beruhigenden Plastikgehäuse meines Handys.
Ich habe ihm gesagt, er soll gehen. Habe es ihm nahezu befohlen. Aber jetzt wünschte ich, ich hätte es nicht getan. Vielleicht sollte ich den Job hinschmeißen, wie es meine Eltern vorgeschlagen haben. Aber Drew braucht mein Auto.
Draußen ist die Sonne schon untergegangen. Dunkelheit drückt gegen die Fensterscheibe. Ich komme mir vor wie im Rampenlicht, bloßgestellt. Jemand könnte mich in diesem Moment beobachten, ohne dass ich etwas davon merken würde. Was, wenn etwas passiert und ich es nicht mehr in den Kühlraum schaffe? Ich könnte versuchen, zur Hintertür zu rennen. Außerdem arbeiten noch Leute bei Subway und in der Videothek. Um die Uhrzeit ist aber wahrscheinlich jeweils nur noch ein Angestellter dort. Trotzdem würden sie vermutlich meine Schreie hören. Abermals taste ich nach meinem Handy.
Was, wenn ein Mann mit einer Waffe hereinkommt? Sollte ich dann tun, was er sagt? Ist Kayla aus dem Auto ausgestiegen, weil jemand eine Waffe auf sie gerichtet hat? Aber sie wurde nicht erschossen, sonst wäre am Fluss mehr Blut gewesen.
Gedanken wie diese machen mich nur verrückt. Ich muss mich beschäftigen. Ich räume schon mal die Zutaten weg, die am wenigsten gebraucht werden, sodass nicht mehr so viel zu tun ist, wenn Drew zurückkommt. Ich decke den Behälter mit der grünen Paprika mit Frischhaltefolie zu. Kaum jemand bestellt verdorrte Paprika in Wassertunke, »grünen Schleim«, wie wir es hinter Petes Rücken nennen. Es sind keine knackigen knallgrünen Kringel, sondern weiche grüngraue Schlabberteile. Als ich den Behälter auf ein Blechregal im Kühlraum stelle, vergewissere ich mich, dass das Holzstück, das Drew mir gezeigt hat, noch dort liegt.
Normalerweise bin ich gern allein in der Pizzeria. Meistens ist in der letzten Stunde nicht mehr viel los und ich räume auf, wische ab und stelle die Sachen ordentlich weg. Aber manchmal klingelt auf einmal das Telefon, kaum dass der Kollege weg ist, und ein Basketballspiel, von dem niemand etwas wusste, ist zu Ende und die Leute strömen in Massen herein. Dann brauchte man auf einmal zehn Hände - stößt mit dem Fuß die Tür zum Kühlraum auf, während man in jeder Hand eine Pizza hält und die Kunden fragt, was sie gerne hätten.
Heute Abend ist alles ruhig, aber nicht friedlich.
Ich fahre zusammen, als mein Handy vibriert. Es ist eine SMS von meiner Mom/»Notfall, Unfall mit 5 Autos. Alarmanlage ist an. Meld dich, wenn du zu Hause bist. LG M.« Ich werde heute Nacht also ganz allein zu Hause sein. Selbst wenn ich überall das Licht einschalte, bleiben dunkle Ecken.
Ich will gerade noch ein paar Pizzaschachteln holen, als die Türglocke klingelt.
Ich gehe in die Küche. Am Tresen steht ein junger Mann. Vom Alter her könnte er Student sein. Aber obwohl ich ihm noch nie zuvor begegnet bin, bin ich mir ziemlich sicher, dass er nie im Leben eine Uni von innen gesehen hat. Er ist ein paar Zentimeter größer als ich, schlank, hat Jeans und ein schwarzes T-Shirt an, dunkle Haare und dunkle Augen. Es sind seine Augen, die mir Angst machen - umgeben von dunklen Augenringen, als hätte er seit Tagen nicht
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