Du Mich Auch
verschwitzten Händen um, »… Abiturs!«
Stolz auf seine rednerische Leistung hob er die Arme und nahm den Mix aus Applaus, Gelächter und Pfiffen entgegen wie ein depressiver Rockstar. Vor ihm standen etwa hundert Damen und Herren, die diese Bezeichnungen überhaupt nicht verdienten. »Ausziehen!«, kreischte eine Frau. »Pornoooo!«, grölte ein Mann. Die Stimmung hatte schon jetzt den Pegel eines Junggesellenabschieds erreicht.
Kopfschüttelnd begutachtete Oberstudiendirektor Hans-Walter Meier seine Schüler von einst. Sie standen dicht gedrängt in einem festlich geschmückten Bankettsaal mit Stuck an den Wänden und rotsamtenen Stühlen. Das Stimmengewirr schwoll stetig an. Es war ein Fehler gewesen, bereits zur Begrüßung Sekt zu kredenzen, so viel war sicher. Er schaute in die Menge, auf der Suche nach Gesichtern, an die er sich erinnerte. Ah ja. Evi Diepholt, die altkluge Musterschülerin. Und Beatrice Kramer, das kleine Luder. Er hatte den grässlichsten Beruf der Welt.
Meier räusperte sich. War es nicht immer ein aufsässiger Jahrgang gewesen? Die beschlagnahmten Haschzigaretten auf der Schultoilette fielen ihm wieder ein. Die Alkoholexzesseauf den Klassenfahrten. Die Knutschereien im Halbdunkel, wenn im Biologieunterricht Filme vorgeführt wurden. Eine unzähmbare Bande. Und das war sie immer noch.
»Ruhe bitte!«, rief er mit sich überschlagender Stimme. »Ich bitte um Auf-merk-sam-keit!«
Piiiieeeeep.
Er hatte sich eine wohlklingende Rede ausgedacht. Mit Goethe-Zitaten, geschönten Erinnerungen und ein paar verlogenen Sentimentalitäten. Die Rede konnte er knicken.
»Hiermit, äh, erkläre ich … das Buffet für … für eröffnet!«, krähte er in letzter Verzweiflung.
Frenetischer Jubel brandete auf. Kellner flitzten umher und sorgten für mehr Sekt, während sich die Gästeschar in Richtung Buffet schob. Es roch bereits penetrant nach Bratensauce. Oberstudiendirektor Hans-Walter Meier war Vegetarier. Ächzend kletterte er von der Bühne, wo die Musiker gerade ihre Instrumente aufbauten.
»Gut gemacht«, sagte ein verwitterter älterer Herr im Tweedanzug und klopfte ihm auf die beschuppte Schulter. Er war der Lateinlehrer des Jahrgangs gewesen und sichtlich froh, dass nicht er die undankbare Rolle des Zeremonienmeisters spielen musste. »Schade nur, dass man Ihren Auftritt nicht recht zu schätzen wusste. Tja. Homo homini lupo, der Mensch ist des Menschen Wolf.«
»Ekelhafte Meute«, knurrte Meier. »Aus denen ist nix geworden. Sieht man ja.«
Am Buffet war man da ganz anderer Meinung. Unter Freudengeheul fielen sich Männer in die Arme, die einander als Halbwüchsige nie hatten ausstehen können. Lautstark prahlten sie mit ihren Erfolgen.
»Hey Sven, geil, dich zu sehen. Ich zock an der Börse. Die erste Mio hatte ich schon mit zwanzig. Und du?«
»Hautarzt. Lauer Job, fette Kohle.«
»Loser. Schon mal von Gesundheitsreform gehört?«
»Ach nee. Und du von Finanzkrise?«
Die weiblichen Gäste dagegen beäugten einander erst einmal stumm. Ihr Wettbewerb fand an der Mode- und Beautyfront statt. Faltenstatus, Hüftumfang und Outfit wurden im Sekundentakt gescannt. Der Konkurrenzkampf war so erbittert wie bei einem Casting. Sie waren Frauen. Sie waren Anfang vierzig. Und wer in den letzten zehn Jahren nicht jede Menge Geld, Schweiß und Disziplin in sein Erscheinungsbild investiert hatte, fiel hier gnadenlos durch. Aber natürlich fand sich ausnahmslos jede weit besser konserviert als alle anderen. Jede. Außer Evi.
Evi hatte das Desaster der gescheiterten Rede mit Schrecken verfolgt. Warum waren die alle so gemein? Sie verstand es nicht. Ihre gute Erziehung hätte ihr niemals erlaubt, einen ehemaligen Lehrer von der Bühne zu johlen. Sie war und blieb eben die höhere Tochter. Etwas abseits stand sie da und drehte ihr volles Sektglas in den Händen. Sie hatte nicht einmal genippt.
Freudlos nahm sie den Saal in Augenschein, die üppigen Blumenarrangements, die Papiergirlanden, die große silberne »25« über der Bühne. Immerhin hatte sie es bis hierher geschafft. Eine halbe Stunde noch und dann Abmarsch, nahm sie sich vor. Sie hatte hier nichts verloren.
Plötzlich zerriss eine schrille Stimme ihre trüben Gedanken. »Eviiii? Oh my god, bist du’s wirklich?«
Sie zuckte zusammen. Entgeistert starrte sie in das Gesicht einer Fremden. Deren hochblondiertes Haar war zu einem rasanten Bob gefönt, eine cremig glänzende Bräune lag auf dem unwirklich glatten Gesicht. Und weder das
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