Du sollst nicht hassen
wir darin einig, dass die Lebensumstände der Palästinenser verändert werden mussten. In meiner Kultur studieren wir nicht einfach, um uns selbst weiterzuentwickeln; wir studieren, um den Lebensstandard unserer Brüder und Schwestern zu verbessern.
Es war auch das Jahr, in dem mein Bruder Noor verschwand. Niemand aus meiner Familie hat seit 1983 mehr etwas von ihm gehört. Die Israelis hatten ihn inhaftiert, als er achtzehn Jahre alt war, weil er für die Fatah arbeitete. In der Tat glaube ich, dass er an die falschen Menschen geraten war. Er war entmutigt, seine Selbstachtung war tief gesunken, und er hatte angefangen, mit Haschisch zu dealen. Als er aus dem Gefängnis kam, sagte er, er wolle nach Gaza zurückkehren oder im Libanon neu anfangen. Er kam zu mir nach Kairo und blieb sechs Monate lang. Ich wollte ihm helfen, Arbeit in einem der Golfstaaten zu finden, aber er nahm mein Angebot nicht an und entschied, in den Libanon zu gehen. Das letzte Mal, als ich ihn sah, sagte er: »Ich will dir keine Schwierigkeiten machen, lass mich gehen.« Ich sagte ihm, dass ich ihn nicht einfach sich selbst überlassen könne, dass er mein Bruder sei und dass ich ihn immer lieben und mich für ihn verantwortlich fühlen würde, aber er ging.
Wir könnten davon ausgehen, dass er getötet wurde und dass nie jemand seine Leiche gefunden hat, aber das tun wir nicht. Solange wir nicht wissen, was geschehen ist, gibt es noch Hoffnung. Ich denke, er hätte sich gemeldet, wenn er noch am Leben wäre, aber für mich und meine Familie halte ich die Hoffnung aufrecht, dass ich ihn wiedersehen werde.
Meine Heimkehr nach Hause war bittersüß. Mir war eine Assistenzstelle angeboten worden, um meinen Facharzt in Geburtshilfe und Gynäkologie in Kairo zu machen, aber ich lehnte sie ab, und zwar nicht nur, weil ich es mir nicht leisten konnte zu bleiben, sondern weil meine Eltern wollten, dass ich nach Hause kam. Mein Vater litt an einer Leberkrankheit, und er hatte sehr auf den Moment gewartet, seinen Sohn als Arzt zu sehen. Seine Gesundheit verschlechterte sich täglich, und er war nicht in der Lage, zu meiner Promotionsfeier an der medizinischen Fakultät nach Kairo zu kommen. Die ganze Familie blieb zu Hause bei ihm, und bevor also niemand bei meiner Feier dabei wäre, fuhr ich lieber heim und verpasste sie selbst.
Nach Gaza zurückzukehren war wie ein Schock. Ich konnte dort, wo ich geboren und aufgewachsen war, keine Arbeit finden, dort, wo man mich so sehr brauchte. Die Israelis hatten Gaza 1967 besetzt, jetzt schrieben wir das Jahr 1985. Wenn man eine Anstellung wollte, musste man der Sohn einer wichtigen Person mit Kontakten zu den Israelis, ein Millionär oder ein Kollaborateur sein. Schließlich wurde mir eine Stelle in der Fachabteilung für Geburtshilfe und Gynäkologie am Nasser-Krankenhaus in Khan Yunis angeboten, etwas fünfunddreißig Kilometer vom Jabaliya-Camp entfernt. Viel weiter konnte man sich von meinem Wohnort nicht entfernen, ohne den Gazastreifen zu verlassen. Für diese Stelle wurde ein Taschengeld bezahlt; ich nahm sie dennoch an, aber ich wusste, ich würde bald etwas anderes finden müssen.
Nur acht Monate nach meiner Rückkehr starb mein Vater. Er hatte hart gearbeitet und viel gelitten. Er war ein erfolgreicher Bauer gewesen, der Sohn eines angesehenen Landbesitzers, aber dann wurde er obdachlos, lebte in einem Flüchtlingscamp und verdiente nie genug Geld. Das war demütigend für ihn. Ich spürte seine Niedergeschlagenheit meine ganze Kindheit hindurch, und als sich mein Leben mit dem Medizinstudium in Kairo zu verbessern begann, bedauerte ich, dass es meinem Vater nicht vergönnt gewesen war, seinen Kindern das Vorbild zu sein, das er gerne gewesen wäre. Er hat Tag und Nacht gearbeitet, um Geld für meine Ausbildung und Lebenshaltungskosten in Kairo aufzubringen. Er war bei der UNRWA, dem Flüchtlingshilfswerk für Palästina, angestellt gewesen, als einfacher Arbeiter, der von fünf oder sechs Uhr morgens bis zwei Uhr nachmittags arbeitete. Danach hatte er weiter gearbeitet, sei es in Gaza oder in Israel, von fünf Uhr nachmittags bis zum nächsten Morgen. Er hatte darauf gewartet, dass sein Sohn seinen Abschluss an der medizinischen Hochschule machte. Traurigerweise konnte mein Vater die Früchte nicht ernten, deren Samen er gesetzt hatte.
Die letzten Tage seines Lebens waren schwierig. Er litt an hepatischer Insuffizienz – seine Leber versagte. Er übergab sich, konnte nichts essen und bekam
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