Du sollst nicht hassen
schon wieder weiter. Der Campus, dem ich zugeteilt worden war, war hundert Kilometer entfernt. Ich war furchtbar enttäuscht, bis ich herausfand, dass ich, wenn meine Noten gut genug waren, am Ende des ersten Jahres auf den Campus in Kairo wechseln konnte. Ich nahm mir gemeinsam mit zwei anderen Studenten eine Wohnung und begann mit dem Studium.
In meinem Kurs war ein palästinensisches Mädchen, das bald mit mir flirtete. Sie war sehr schön, und ich hielt ihr immer einen Platz neben mir frei. Ich mochte sie, aber ihr Verhalten irritierte mich auch. Ich fragte mich, was sie wollte. Sollte ich mich in Ägypten verlieben? Der Gedanke schockierte mich dermaßen, dass ich mich entschied, nicht zu den Partys zu gehen, nicht einmal ins Kino. Ich würde Tag und Nacht lernen, um mein Ziel zu erreichen. Das Mädchen machte noch ein paar Annäherungsversuche, und ich war freundlich zu ihr, aber ich hatte Angst vor einer Beziehung, aus der mehr werden könnte als Freundschaft. Ich war noch so jung.
Ich bestand meine ersten Prüfungen, und im nächsten Jahr zog ich auf den Campus in Kairo und begann, das Leben in der großen Metropole zu kosten. Jeden Winkel der Stadt wollte ich kennenlernen. Ich ging mit meinen Freunden in Clubs, auch wenn ich nie Alkohol trank, bis heute nicht. Ich knüpfte Kontakte zu Studenten aus anderen arabischen Ländern, trat dem Club ausländischer Studenten bei, sprach bis tief in die Nacht über Politik und Mädchen und hielt die Augen weit offen. Eine Freundin hatte ich nicht, aber meine Kollegen sprechen mich heute noch gern auf das Leben an, das wir als Studenten geführt haben – von Party zu Party zu ziehen und bis zum Morgengrauen unterwegs zu sein.
Doch ich verlor nie mein Studium aus dem Blick. Wir mussten uns zwar – auch praktisch – mit jedem der verschiedenen medizinischen Fachbereiche wie Kinderheilkunde, innere Medizin oder Chirurgie befassen, aber es waren Geburtshilfe und Gynäkologie und ihre enge Beziehung zum Wunder des Lebens, die mich so sehr begeisterten, dass ich kaum atmen konnte, wenn ich dafür lernte. Als ich das erste Mal bei der Entbindung eines Neugeborenen assistierte, war ich fasziniert. Dass dieses Kind soeben unter meinen Händen das Licht der Welt er blickt hatte, dass diese Frau auf dem Entbindungstisch sicher durch die neun Monate gekommen war und nun vor Liebe, Freude und Stolz strahlte, war wie ein Wunder für mich. Von dem Tag an begriff ich Schwangerschaft als einen genauso natürlichen Prozess wie Essen und Trinken. Später, während meiner Praktikumszeit in Kairo, wusste ich genau, dass ich mich auf diesem Gebiet spezialisieren wollte. Babys auf die Welt zu bringen begeisterte mich. Eine Mutter schrie unter der Geburt vielleicht, dass sie das nicht noch einmal mitmachen würde, aber hinterher sagte sie dann: »Ich wette, ich sehe Sie in ein oder zwei Jahren wieder.«
Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich eine Frau behandelte, die während einer Fehlgeburt starke Blutungen hatte. Sie hätte daran sterben können. Doch ich schaffte es, die Blutung unter Kontrolle zu bekommen und rettete ihr Leben. Meine Fähigkeiten einzusetzen, um ein Leben zu retten, einem Patienten in seinem Kummer zu helfen oder ein Neugeborenes auf die Welt zu bringen, wurde zum Aufregendsten in meinem Leben.
Ein anderes bleibendes Erlebnis waren unsere studentischen Feiern des Ramadan. Ungefähr fünfzehn von uns trafen sich zum gemeinsamen Essen bei jemandem zu Hause. Danach brachen wir ins Kairoer Nachtleben auf und nahmen an den Festlichkeiten teil – den Gesängen und dem Geschichtenerzählen bis zum Sonnenaufgang. Es waren sorgenfreie, kostbare Tage, wie ich sie nie zuvor und auch niemals wieder erlebt habe.
Nach einem Vorbereitungsjahr, weiteren fünf Jahren medizinischer Ausbildung und einem praktischen Jahr am Universitätskrankenhaus der Universität Kairo schloss ich 1983, acht Jahre nach Beginn des Abenteuers, mit der Promotion zum Dr. med. ab und erhielt die Approbation zum praktischen Arzt. Ich war jung, voller Leidenschaft und bereit zu arbeiten. Aber nach dem, was ich als Kind in Gaza durchgemacht hatte, sah ich mich selbst als einen Menschen, der etwas über das Leben im Flüchtlingscamp nach draußen bringen konnte. Es wurde Zeit, dass das, was mit den Palästinensern geschah, mehr Aufmerksamkeit erhielt. Es gab nach wie vor keine anständige Gesundheitsversorgung oder genug zu essen. Meine Familie sah in mir ein Vorbild, und ganz ohne Frage waren
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