Du sollst nicht hassen
wurde. Manche sind der Meinung, sie sei durch einen Vorfall vom 8. Dezember 1987 ausgelöst worden: Ein israelischer Lastwagen fuhr in eine Gruppe Palästinenser aus Jabaliya und tötete vier von ihnen, sieben weitere wurden verletzt. Ein paar Tage zuvor war ein israelischer Geschäftsmann erstochen worden, und viele Palästinenser hatten den Eindruck, der sogenannte Unfall sei eigentlich ein Racheakt gewesen.
Eine andere Lesart besagt, dass es eine Vergeltungsaktion für einen anderen Unfall war: Eine Woche bevor die Intifada begann, war den Palästinensern vorgeworfen worden, in ein Ausbildungslager der israelischen Streitkräfte im Libanon eingedrungen zu sein und sechs israelische Soldaten getötet zu haben.
Was immer der Auslöser war, die Menschen waren aufgebracht und gingen auf die Straße. Die Demütigungen der Besatzung kannten keine Grenzen. So waren sich israelische Soldaten nicht zu schade, einen Palästinenser dazu zu zwingen, wie ein Esel zu laufen, nur um sich über ihn lustig zu machen. Jeder kleine Vorfall, real oder eingebildet, konnte einen Aufstand auslösen, aber ich denke, dass die Unruhen vor allem dadurch verursacht wurden, dass niemand etwas unternahm, um die Situation der Palästinenser zu verbessern.
Es gab keine Anzeichen für die Gründung eines palästinensischen Staates; die Palästinenser aber brauchten eine Identität und eine Staatsangehörigkeit. Die Impulse, die von den anderen arabischen Staaten hätten kommen müssen, um diese Probleme zu lösen, waren zu schwach geblieben. Die Palästinenser hatten auf eine Veränderung gehofft, auf eine Befreiung von den nunmehr zwanzig Jahre andauernden Einschüchterungen und Nötigungen. Es war also nicht überraschend zu sehen, dass auf unseren Straßen die Gewalt ausbrach.
Zuerst brannten Autoreifen, und Steine flogen gegen israelische Truppen. Die Antwort der Israelis war unangemessen – sie begegneten den Steine werfenden Jugendlichen mit M16-Sturmgewehren. Mein Bruder Rezek wurde ohne ersichtlichen Grund verhaftet. Meine Schwester hatte eine Fehlgeburt, die mit großer Wahrscheinlichkeit durch den Stress der Intifada verursacht worden war. Die Tageszeitungen, die wir in Saudi-Arabien lasen, waren voller Berichte über die Toten und Verletzten, die es gegeben hatte. Die Feindseligkeit nahm von Tag zu Tag zu. Es gab Boykotte israelischer Waren, Barrikaden wurden errichtet, Anschläge ausgeübt, Molotow-Cocktails und Handgranaten flogen. Es war kein guter Zeitpunkt, um von zu Hause fort zu sein, weil Nadia und ich uns ständig Sorgen machten, was unseren Familien und Freunden als Nächstes passieren würde. Andererseits würde Nadia bald entbinden, und Freude und Aufregung rangen mit der wachsenden politi schen Spannung zu Hause um die Vorherrschaft in unseren Herzen.
Unser Tochter Bessan kam im Juli 1988 zur Welt. Eigentlich ging es uns gut, sehr gut sogar. Ich gewann an medizinischer Erfahrung hinzu, wie ich es immer gewollt hatte. Meine Familie wuchs und gedieh, und trotz des Wunsches meiner Mutter, dass ich gerade in diesen bewegten Zeiten als Oberhaupt der Großfamilie nach Hause zurückkehren sollte, entschied ich, dass wir noch eine Weile in Saudi-Arabien bleiben würden.
Ein wesentlicher Faktor bei dieser Entscheidung war, dass sich mir erneut die Möglichkeit bot, mich weiter in Geburtshilfe und Gynäkologie zu spezialisieren. Anfang März 1988 erhielt ich ein Stipendium vom Gesundheitsministerium in Saudi-Arabien. Ich hatte ein großes Interesse für die Behandlung von Unfruchtbarkeit entwickelt. Im Camp von Jabaliya ist Unfruchtbarkeit sehr verbreitet, was den hohen Geburtsraten, die jeder bei palästinensischen Familien vermutet, entgegensteht. Paradoxerweise weisen Orte mit hoher Fruchtbarkeit auch eine hohe Unfruchtbarkeitsrate auf. Ich beschloss, meine Arbeit zu diesem Thema zu schreiben. Die meisten der Veranstaltungen fanden in Riad, der Hauptstadt von Saudi-Arabien, statt, doch einige Kurse waren am Institut für Geburtshilfe und Gynäkologie in London angesetzt.
Ich hatte ein gültiges Visum, um nach Großbritannien zu reisen, und mein palästinensischer Pass verursachte beim Reisen keinerlei Probleme. Bebend vor Aufregung ging ich an Bord meines ersten Fluges. Ich sprach bereits Englisch, sodass ich keine großen Sprachbarrieren zu überwinden hatte, und London wurde zu einer überragenden Erfahrung für mich. Es war so anders als Gaza – kalt, dunkel und regnerisch und dennoch lebendig, faszinierend und
Weitere Kostenlose Bücher