Du sollst nicht hassen
reisen, müssen beispielsweise zusammen mit der ärztlichen Überweisung ihre persönlichen medizinischen Berichte vorlegen. Überflüssig zu sagen, dass vertraulicher Umgang mit Patientendaten in Gaza kein Begriff ist.) Ich war dem üblichen Ablauf dieses Mal einen Schritt voraus, weil ich wusste, dass die Grenze offen sein würde. Normalerweise weiß man bei uns nicht, wann man reisen kann: Man wartet, bereit, jederzeit zu reisen, wenn die Grenze öffnet, was morgen, übermorgen, nächste Woche oder in drei oder vier Monaten sein kann.
Ich will hier nicht noch einmal die endlosen Schritte und willkürlichen Entscheidungen aufzählen, denen ein Palästinenser, der reisen möchte, ausgeliefert ist; in diesem Fall dauerte es nur vierundzwanzig Stunden, und ich war einer der Glücklichen, die den Weg in ein Flugzeug geschafft haben.
Nachdem ich meine Vorstellungsgespräche in Dubai absolviert hatte, wollte ich natürlich so schnell wie möglich zu meinen Kindern nach Hause. Aber wie? Und wann? Über welche Stadt und welchen Übergang? Ich flog nach Kairo, blieb dort ein paar Tage und versuchte, eine Genehmigung und einen Termin zum Grenzübertritt zu bekommen; dann fuhr ich weiter nach Al Arish, etwa hundert Kilometer von Kairo entfernt und nahe der Grenze, sodass ich, sobald sie öffnete, so schnell wie möglich hinüberkonnte. Meine Kinder waren in unserer Wohnung mehr oder weniger sich selbst überlassen; sie waren neunzig Kilometer entfernt, eine Fahrt von höchstens anderthalb Stunden.
Ich musste in Al Arish etwa zwei Wochen warten. Ich verbrachte die ganze Zeit damit, jeden anzurufen, den ich um Hilfe fragen konnte, nur um nach Hause zu kommen. Eines Tages entschieden die ägyptischen Behörden, die Grenze zu öffnen, sodass Patienten, die in Ägypten behandelt worden waren, nach Gaza zurückkonnten, und man sagte mir, dass ich eventuell auch hinüberdürfte. Ich ging zur Grenze und flehte, erklärte, dass meine Kinder alleine waren, dass sie erst kürzlich ihre Mutter verloren hatten und dass sie ihren Vater brauchten. Aber ich fand kein offenes Ohr und rührte kein Herz. Ich wartete den ganzen Tag und hoffte wider alle Vernunft, dass die Menschlichkeit sich durchsetzen würde, doch vergebens, ich musste nach Al Arish zurückkehren.
Viele Leute waren wie ich für Tage, Wochen, sogar Monate an der Grenze gestrandet. Nur die Gutbetuchten konnten die Unterkünfte in den nahe gelegenen ägyptischen Städten nutzen. Die anderen schliefen direkt am Grenzübergang auf dem Boden. Man kann sich vorstellen, wie die hygienischen Verhältnisse unter solchen Umständen sind. Es ist schon normal geworden, Hunderte von palästinensischen Reisenden zu sehen, die darauf warten, die Grenze überqueren zu dürfen. Frauen, alte Menschen, jungen Männer und Kinder, alle mit demselben Ausdruck der Hoffnungslosigkeit, Frustration, Ungeduld und Erschöpfung im Gesicht. Reisen ist zu solch einer elenden Erfahrung geworden, dass kein Palästinenser sie freiwillig unternimmt, außer die, für die es unvermeidlich ist: Studenten, die eine ausländische Universität besuchen, Patienten, die Behandlungen benötigen, und Geschäftsleute, die versuchen so zu tun, als sei ihre Welt noch normal.
Als das Ende des Monats Id und das Opferfest nahten, erlaubten die Ägypter mir und den anderen endlich, die Grenze zu passieren. Ich kehrte beladen mit Kerzen, Kleidern, Bettwäsche, Lebensmitteln und Petroleum für den Ofen zu meinen Kindern zurück. Alles Dinge, die im Gazastreifen schwer zu bekommen sind.
Nach dieser langen Trennung wollte ich meine Familie zu dem Olivenhain und an den Strand bringen, um uns allen eine Pause vom unentwegten Kampf und unserer Traurigkeit zu gönnen.
In diesem Herbst dachte ich viel über unsere Zukunft in Gaza nach. Unsere Schwierigkeiten waren persönlicher Art, ja, aber auch das Säbelrasseln zwischen Israelis und Palästinensern war lautstark zu hören. Die Spannung lag so spürbar in der Luft, dass niemand sie ignorieren konnte, nicht einmal die Menschen in Gaza, die an sie gewöhnt waren.
Die Sackgasse, in die wir geraten waren, hatte ihren Anfang im Wahlsieg der Hamas, nach dem sowohl Ägypten als auch Israel im Juli 2007 den Zugang nach Gaza schlossen. Alles Lebensnotwendige wurde seither von Israel kontrolliert: Gas, Wasser, Strom. Laut Berichten der Vereinten Nationen wurden in den siebzehn Monaten der Blockade 2700 in Untergrundlabors von Gaza gefertigte Kassam-Raketen auf Israel abgefeuert. Sie
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