Du sollst nicht hassen
halb acht Uhr abends. Sie hatten mir mein Handy abgenommen. Ich wusste nicht mehr, wie es meiner Frau ging. Ich saß dort ohnmächtig, während die kostbaren Minuten ihres Lebens verrannen. Jede Stunde erschien mir wie ein Tag.
Dann gab mir einer der Beamten durch die Glasscheibe, die seinen Schreibtisch von dem Raum trennte, in dem man mich festhielt, ein Zeichen. Jemand schloss die Tür wieder auf, und ich ging zu diesem Mann hinüber, der zurückgelehnt auf seinem Stuhl saß, die Füße auf dem Schreibtisch. Er winkte mich mit einer Hand heran, als befehle er einem Hund, »Sitz« zu machen, und sah mir nicht einmal in die Augen, als er die Genehmigung zu mir hinüberschob.
Ich war erschöpft, durstig und mit den Nerven völlig am Ende. Es dauerte eine weitere Stunde, um zum Krankenhaus zu gelangen, und als ich schließlich ankam, ging ich direkt auf die Intensivstation. Nadia war bewusstlos. Ich rief ihren Namen, sagte ihr: »Ich bin bei dir.« Ich weiß nicht, ob sie mich hörte. Erschöpft schlief ich auf einem Schreibtisch im Flur, sodass ich sie in dieser Nacht nicht verlassen musste.
Das Krankenhaus gab mir ein Zimmer, sodass ich arbeiten und mich ausruhen konnte. In den nächsten Tagen schien Nadia sich zu erholen. Sie sagte die ganze Zeit, sie würde auf ihren eigenen Füßen nach Hause zu unserer Familie laufen. Sie war absolut sicher, dass die Behandlung sie wiederherstellen würde. Wenn es auch für sie und die Kinder hart war, dass sie nicht zusammen sein konnten, kam es uns allen doch nie in den Sinn, dass sie nicht mehr nach Hause kommen würde. Die Kinder ins Krankenhaus zu bringen war nicht erlaubt: Nur der Patient und eine Begleitung durften den Übergang Eres passieren, und Nadia war mit ihrer Schwägerin gekommen.
Dann plötzlich, am Samstag, den 13. September, wurden ihre Werte wieder schlechter. Ich wusste, wir würden sie verlieren. Unsere Kinder konnten immer noch nicht kommen, um sie zu sehen. Ihre Verfassung verschlechterte sich binnen Stunden. Sie hielt durch bis Dienstag, den 16. September um drei Uhr nachmittags, als es zum systemischen Zusammenbruch kam und ihre Organe versagten. Ich saß neben ihr, sprach mit ihr, rief ihren Namen, las ihr aus dem Koran vor. Um 16:45 Uhr starb sie. Meine Ehefrau, die Mutter unserer acht Kinder, war von uns gegangen.
Ich konnte mir nicht vorstellen, wie wir mit ihrem Tod fertig werden sollten. Weil Ramadan war und jeder fastete, wollte ich nicht zu Hause anrufen und es den Kindern sagen, ehe das Fasten um Viertel nach fünf gebrochen würde. Sie hatten den ganzen Tag nichts gegessen, und ich wusste, dass sie auch nichts mehr essen würden, wenn sie die Nachricht von Nadias Tod hörten. Daher wollte ich warten, bis ich sicher war, dass sie etwas zu sich genommen hatten. Stattdessen rief ich am Übergang Eres an, um eine Überführung für Nadia zu arrangieren, damit ich sie heimbringen konnte. Noch im Tod kann ein Palästinenser nicht ohne Genehmigung reisen. Dann rief ich zu Hause an. Aya ging ans Telefon, sie hörte meine Stimme und begann zu schreien. Ich sagte unentwegt zu ihr: »Gott wird es uns vergelten.« Aber alles, was sie sagen konnte, war: »Nein, nein, nein.«
Es gab Papierkram, um den man sich kümmern musste, eine Ambulanz, die man mieten musste, einen Wagen für die Fahrt zur Grenze. Als wir dort waren, war es so, als wäre ich in eine Zeitmaschine geraten. Die Sicherheitsüberprüfung wies mich wiederum als Risiko aus, obwohl die Fehlinformation schon seit Wochen hätte gelöscht sein sollen, und ich konnte Nadias Leiche nicht über die Grenze begleiten. Die israelische Ambulanz musste die palästinensische Ambulanz an der Übergangsstelle für Fahrzeuge treffen, und der Sicherheitsbeamte schlug vor, ich solle meine Frau in der Ambulanz fahren lassen, den Papierkram erledigen und dann zu Fuß von der israelischen Seite zur palästinensischen Seite hinübergehen. Natürlich hatte ich das schon oft getan, aber ich wollte auf der ganzen Heimreise an ihrer Seite sein. Ich wollte meine Frau nicht allein fahren lassen. Ich ging so schnell wie möglich die Papiere durch und konnte den Beamten schließlich überzeugen, dass der Ausschlussvermerk über mich ein Irrtum war. Ich rannte durch den Übergang – zumindest dort, wo Rennen erlaubt war – und erwischte die Ambulanz, ehe sie den Gazastreifen erreichte. Nadia und ich fuhren den Rest des Weges gemeinsam.
Meine Brüder erwarteten uns. Menschen aus ganz Gaza waren in unserer
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