Du sollst nicht hassen
denselben Studiengang besuchte und in einem anderen Teil des Gazastreifens lebte. Ich rief sie vom Handy aus an. Sie war dort, und sie war im Augenblick sicher, konnte aber nicht nach Hause kommen, weil die Straßen gesperrt waren.
Die Kinder erzählten mir, dass die Schulbusse stehen geblieben waren, als die Bombardierung begann. Sie hatten beschlossen, allein nach Hause zu kommen. Sie hatten sich vor den Einschlägen versteckt und waren in den Feuerpausen gerannt, bis zu uns nach Hause. Man stelle sich das vor – Schulkinder, die um ihr Leben laufen und herausfinden müssen, wie sie dabei am besten Bomben und Schüssen entgehen.
Es war der Beginn eines dreiundzwanzigtägigen Angriffs auf den Gazastreifen. Wir beschlossen, in der Wohnung zu bleiben, weil es der sicherste Ort für uns war. Die Israelis wussten, dass dies mein Haus war, was für mich hieß, dass wir nie zur Zielscheibe werden würden, wenn sie auf der Suche nach Militanten waren. Mein Bruder Rezek war in Ägypten, also verließ seine Familie die Wohnung in unserem Haus und ging zu den Eltern seiner Frau im Camp von Jabaliya. Mein Bruder Shehab, der am Ende der Straße wohnte, entschied sich, seine Frau und seine Familie ins Gemeindezentrum von Jabaliya-Camp zu schicken, weil sie dachten, dort sei es sicherer. Shehab zog bei uns ein; so konnte er ein Auge auf seine Wohnung haben. Außerdem hatten wir gehört, dass Leute, die allein wohnten, getötet wurden. In unserem Wohnhaus waren also mein Bruder Atta und seine Familie, Nasser und seine Familie und in meiner Wohnung die Kinder, Shehab und ich.
Dieser wahnsinnige Angriff auf Männer, Frauen und Kinder – samt allen sonstigen Lebewesen und allem, was Menschen je als Zuflucht gebaut hatten – hatte den erklärten Zweck, die Hamas in die Knie zu zwingen. Die offizielle Rechtfertigung der Israelis lautete, dass sie die Raketenangriffe auf Sderot und den Waffenschmuggel aus Ägypten unterbinden mussten.
Ich hatte vorhergesehen, dass dies irgendwann passieren würde und hatte sogar ein paar Dinge wie Kerzen, Kerosin, Brot, Reis, Linsen, Streichhölzer und anderes Unverderbliches gehortet. In Gaza leben wir für den Augenblick, und wir wissen nie, was als Nächstes passiert. Doch nicht einmal der ärgste Pessimist hatte sich vorstellen können, dass der israelische Angriff dreiundzwanzig erbarmungslose Tage dauern würde. Es gab keinen Strom, keine Telefonverbindungen, kein Gas (die Gasleitungen waren vor dem Angriff abgeklemmt worden) und kein Fernsehen. Wir konnten vor Lärm und Terror nicht schlafen. Wenn es draußen hell war, ging ich los, um das zusammenzukratzen, was wir benötigten, um zu überleben, aber es gab kaum etwas. Nach nur ein paar Tagen gab es in den Läden kein Mehl mehr und kein Pitabrot, ein Hauptnahrungsmittel für uns. Manche Ladenbesitzer räumten ihre Lager aus und machten Körbe, einen für jede Familie, aber bald war auch das verbraucht. Nadias Schwester Sobhia hörte von einer Stelle, wo es noch Pita gab. Ich ging mit ihr und Mohammed dorthin, und gemeinsam schafften wir es, dreihundert kleine Pitabrote zu kaufen. Ich wusste, dass sie bei einer Großfamilie wie der unseren nicht lange reichen würden.
Die Bodenoperation begann am 3. Januar 2009. Davor hatten wir selbst unter Beschuss noch vorsichtig zum Markt gehen können, um Lebensmittel zu beschaffen, aber jetzt wurden wir zu Gefangenen in unserem eigenen Haus. Hunderte Panzer rollten über die Grenze, feuerten auf alles, was sich bewegte und schossen ihre Salven gnadenlos in ein Gebäude nach dem anderen. Zu diesem Zeitpunkt waren wir schon zwei Wochen unter Belagerung. Ein Transistorradio war unsere einzige Verbindung zur Außenwelt, abgesehen von unseren Handys, die fast keinen Strom mehr hatten, auch wenn wir sie sparsam benutzt hatten.
Meine Tochter Shatha und ihre Cousine Ghaida, Attas Tochter, die mit uns im selben Haus lebte, sagten, dass sie wüssten, wie man ein improvisiertes Ladegerät zusammenbasteln könne. Zu meiner Überraschung verbanden sie vier Radiobatterien und verwandelten sie in ein Ladegerät. Sie schnitten das Kabel vom Handy-Ladegerät ab, nahmen die beiden Drähte im Kabel und verbanden jeden mit einem Ende der Batterien, die sie mit Klebeband zusammengebunden hatten; das Ende des Kabels steckten sie in das Telefon. Es dauerte zehn Stunden, um ein Handy aufzuladen, aber dieses Ladegerät wurde zu unserer Lebensader.
Das Granatfeuer schien aus allen Richtungen zu kommen. Wir wussten
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