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Du sollst nicht hassen

Titel: Du sollst nicht hassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Izzeldin Abuelaish
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nicht, wer oder was das Ziel war. Alles, was ich im Radio hörte, war die Zahl der Toten, als seien wir Palästinenser nur Zahlen, nicht Mütter und Väter, Schwestern und Brüder.
    Das Esszimmer wurde für die Familie zum Allerheiligsten, da wir die außen gelegenen Räume – die Küche, die Schlafzimmer und das Wohnzimmer – mieden. Ich sagte meinen Kindern, sie sollten ihre Matratzen in das Esszimmer holen, weil wir dort sicherer wären und alle zusammen sein könnten. Und dort blieben wir, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Wir erzählten einander Geschichten. Shatha lernte bei Kerzenlicht, weil sie hoffte, eine der zehn besten Schülerinnen ihrer Schule zu werden, wenn im Juni die Abschlussarbeiten geschrieben wurden. Aber ihr Vorhaben, bei Kerzenlicht zu lernen, war nicht so einfach umzusetzen. Wir hatten Angst, die Soldaten draußen könnten das Licht entdecken. Wir hatten Angst, den einen tödlichen Fehler zu begehen. Wir wechselten uns darin ab, den Schein des Kerzenlichts zu verbergen. Manchmal machten wir eine Wand aus Kartons, manchmal stellten wir Stühle um die Flamme, manchmal nutzten wie eine Ecke des Raums. Die Ehefrau meines Bruders Rezek, Aida, sagte immerzu, wie stolz wir alle auf Shatha sein würden, wenn sie ihren Abschluss machen würde.
    Ich war stolz auf meine Familie und auf die Art, wie wir zusammenhielten, um den Schrecken da draußen vor unseren Fenstern zu überstehen. Wir ermutigten und unterstützten uns, wo wir nur konnten.
    Bald nach dem Beginn des Angriffs fand ich mich selbst in der Rolle eines Reporters wieder. Hunderte von Korrespondenten der internationalen Gemeinschaft – BC, CNN, CBC, Fox News, Sky News – steckten auf einem schlammigen Hügel draußen in Aschkelon fest, der Stadt, die dem Übergang Eres am nächsten ist, denn das israelische Militär verweigerte ihnen den Zugang nach Gaza. Selbst israelische Reporter wurden nicht hineingelassen. Ihre Kameras fingen die Rauchfahnen der explodierenden Bomben ein, aber es gab keine Augenzeugen, die von den Fakten, vom Ort des Geschehens berichten konnten. Also riefen Vertreter israelischer Medien mich auf dem Handy an, weil ich fließend Hebräisch sprach und mitten in der Katastrophe lebte, die ihre Soldaten in Gaza angerichtet hatten.
    Mein Freund Shlomi Eldar von Israels Fernsehsender Channel 10 rief mich regelmäßig am späten Nachmittag an, um zu fragen, was an dem Tag geschehen war. Von meinem Wohnzimmerfenster aus konnte ich sehen, dass sie mit ihren Bomben und Raketen die ganze Nachbarschaft ausgelöscht hatten. Sie hatten alles in Schutt und Asche gelegt, als wollten sie jeden sichtbaren Beweis auslöschen, dass hier jemals Menschen gelebt hatten – dass alte Leute und kleine Kinder, Teenager und Eltern diese Straßen entlanggegangen waren, in diesen Häusern geschlafen hatten, zusammen gegessen, sich nach Osten verneigt und zum Gebet auf ihren Teppichen gekniet hatten.
    Auch wenn ich anfangs Repressalien gegen mich und meine Familie fürchtete, willigte ich schließlich ein, diese Interviews zu geben, weil jemand das Geschehen nach draußen in die Welt bringen musste. Shlomi erklärte später mit folgenden Worten, warum er mich angerufen hatte:
    »Als der Einmarsch nach Gaza begann und den Medien der Zugang verwehrt wurde, dachte ich, er könne uns einen Einblick in das Leben in Gaza vermitteln … Vom ersten Tag des Krieges an sprachen wir während des Nachrichtenteils der Sendung vier oder fünf Minuten lang am Telefon miteinander. Er gab uns einen einzigartigen Einblick in das Leben der Palästinenser. Die Hörer waren nicht besonders verständnisvoll, weil sie der Meinung waren, dass die Kassam-Raketenangriffe mit allen Mitteln gestoppt werden mussten.«
    Verständnisvoll oder nicht, mit meiner Stimme im Ohr konnten die Israelis nicht völlig ignorieren, welchen Preis die Palästinenser für ihre Militäraktion zahlten.
    Die surrealen Zustände während der Belagerung gaben mir immerhin Zeit nachzudenken, für die Zukunft zu planen und die Vergangenheit zu reflektieren. Ich wusste, dass der Einmarsch einmal enden würde, aber was dann? Ich hatte schon früher Zerstörung gesehen, damals, als Kind, als sie unser Haus eingerissen hatten. Und auch als Erwachsener hatte ich erlebt, wie das Hauptquartier der palästinensischen Autonomiebehörde durch Granatfeuer in Schutt und Asche gelegt wurde. Wie konnten wir je von diesen tödlichen Angriffen auf Männer, Frauen und Kinder – den unschuldigen Zivilisten

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