Du sollst nicht hassen
Zehntausende wurden obdachlos. Achtzig Regierungsgebäude wurden zerbombt.
Im September 2009 gab der UN-Menschenrechtsrat (UNHRC) einen Bericht zum Einmarsch Israels heraus, dem ein neuerlicher Feuersturm folgte – diesmal mit Worten. Die politischen Kräfte beider Seiten verurteilten den Bericht, der vom renommierten südafrikanischen Richter Richard Goldstone verfasst worden war. Er nannte den israelischen Überfall auf Gaza »einen vorsätzlichen, unverhältnismäßigen Angriff mit der Absicht, die Zivilbevölkerung zu bestrafen, zu erniedrigen und zu terrorisieren«. Er beschuldigte das israelische Militär, direkte Angriffe gegen die Zivilbevölkerung geführt zu haben. Zivilisten, die versucht hatten, ihr Haus zu verlassen, um an einen sichereren Ort zu gelangen und dabei weiße Fahnen schwenkten, waren beschossen worden. Er gab den israelischen Streitkräften die Schuld an der Vernichtung der Nahrungsmittelproduktion und der Zerstörung der Wasser- und Abwasserleitungen, und er warf ihnen vor, bei der Bombardierung von Gaza-Stadt und dem Flüchtlingscamp von Jabaliya systematisch weißen Phosphor eingesetzt, Krankenhäuser und UN-Einrichtungen angegriffen und eine Moschee während des Gebets mit Raketen beschossen zu haben.
In gleicher Weise kritisierte er die Hamas für achttausend abgefeuerte Raketen in den letzten acht Jahren, die darauf abzielten, Zivilisten zu töten und zivile Einrichtungen zu beschädigen. Zivilisten, die in Reichweite der Raketen lebten und häufig gezwungen waren zu fliehen, seien psychischen Traumata ausgesetzt worden. Richter Goldstone plädierte für eine öffentliche Untersuchung auf beiden Seiten, doch sein Ansinnen stieß auf taube Ohren. Nach Auffassung der israelischen Regierung war der Bericht voll von »Propaganda und Parteilichkeit«, und auch die Hamas nannte ihn »politisch unausgewogen und unlauter«.
Das ist typisch für den Nahen Osten: Rhetorik siegt über Tatsachen. Die Mehrheit der Israelis und der Palästinenser war entsetzt über die schrecklichen Ereignisse dieses dreiwöchi gen Krieges. Diese Reaktion von Großteilen der Bevölkerung unterstreicht die Notwendigkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen, einander zuzuhören und zu handeln. Und es bestärkt mich in meiner lebenslangen Überzeugung, dass aus etwas Schlechtem etwas Gutes hervorgehen kann. Die Alternative ist zu düster, um sie überhaupt zu erwägen. Meine drei Töchter und meine Nichte sind tot. Rache wird sie mir nicht zurückbringen. Es ist wichtig, das Gefühl der Wut zuzulassen, das auf solche Ereignisse folgt. Wut, die einem zeigt, dass man nicht akzeptiert, was passiert ist, die einen dazu bringt, etwas zu verändern. Doch man darf sich nicht in die Spirale der Gewalt begeben. Der Wunsch nach Rache macht wohlüberlegtes Handeln unmöglich, vermehrt die Probleme und vertieft die Zwietracht. Das einzig Gute, das aus diesem Bösen kommen kann, ist, dass wir die Teilung überwinden, die uns seit sechs Jahrzehnten voneinander trennt.
Der Tod meiner Töchter und meiner Nichte hat meine Überzeugung vertieft, dass dieser Graben überbrückt werden muss. In meinem tiefsten Innern ist mir klar, dass Gewalt zwecklos ist. Sie ist eine Verschwendung von Zeit, Leben und Ressourcen und hat bisher nur noch mehr Gewalt hervorgebracht. Es gibt nur einen Weg, eine Brücke über den Graben zu bauen: zusammenzuleben und die Ziele beider Völker anzuerkennen. Wir müssen das Licht finden, das uns zu unserem Ziel führt. Ich spreche hier nicht vom Licht des religiösen Glaubens, sondern vom Licht als Symbol der Wahrheit. Das Licht der Wahrheit erlaubt uns, den Nebel zu durchdringen und Weisheit zu finden. Um das Licht der Wahrheit zu finden, muss man reden, zuhören und einander respektieren. Statt unsere Energie auf den Hass zu verschwenden, sollten wir die Augen öffnen und auf das schauen, was wirklich geschieht. Wenn wir die Wahrheit erkennen, wird es uns bestimmt gelingen, Seite an Seite zu leben.
Ich bin Arzt, und infolgedessen kann ich die Dinge am besten in medizinischen Begriffen fassen. Wir brauchen so etwas wie ein Impfprogramm, das den Leuten die Gedanken an Respekt, Würde und Gleichheit vermittelt und sie gegen Hass immun macht.
Ich habe mein Leben dem Frieden gewidmet, der Heilung, der Geburt und der Aufgabe, die Probleme der Unfruchtbarkeit zu lösen. Ich habe mit israelischen Ärzten an Forschungsprogrammen gearbeitet, ich habe verletzte und kranke Menschen aus Gaza nach Israel gebracht.
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