Du sollst nicht hassen
Das ist der Weg, an den ich glaube und an den zu glauben ich meine Kinder erzogen habe. Nachdem ich mein Leben lang alles dafür gegeben habe, einen Beitrag für die Koexistenz zu leisten, ist es mir unbegreiflich, dass ich nun Zeuge und Opfer solch schlimmer Ereignisse werde.
Etwa sechs Wochen nach der Tragödie gab ich der New Yorker Kolumnistin Mona Eltahawy ein Interview. Sie schrieb: »Er scheint in diesem schmalen Streifen des Nahen Ostens, wo man so hart an der Unterscheidung zwischen ›wir‹ und ›sie‹ festhält, der letzte Mensch zu sein, der sich weigert zu hassen.« Sie hat damit einen Punkt angesprochen, der für mich wichtig ist. Ich verbringe meine Zeit nicht damit, mir selber leidzutun, und ich hasse auch ganz bestimmt niemanden. Aber natürlich habe ich mich gefragt, warum gerade mir das passiert ist. Warum wurde ich verschont, wenn meine Töchter getötet wurden? Wurde ich aus irgendeinem Grund ausgewählt? Viele Menschen, Freunde wie Fremde, haben sich zu der doppelten Tragödie geäußert, von der meine Familie im letzten Jahr betroffen war – dem plötzlichen Tod von Nadia und dem Verlust meiner Töchter und meiner Nichte – und mich gefragt, ob ich das Gefühl hätte, bestraft worden zu sein. Das habe ich nicht. Aber ich frage mich manchmal, ob ich nicht derjenige hätte sein sollen, der stirbt.
Ich fühle mich manchmal wie Ayoub im Koran oder Hiob im Talmud und in der Bibel: der Mann, dessen Glaube an Gott auf eine harte Probe gestellt wurde. Seine Ernte wurde vernichtet, seine Kinder getötet, er wurde schwer krank und verlor sein Vermögen, seine Freunde verließen ihn, und dennoch bewahrte er seinen Glauben. Auch ich wurde geprüft, und ich habe das Gefühl, es sei an mir, eine Lösung zu finden. Als Gläubiger fühle ich, dass ich auserwählt wurde, die Wahrheit über das Leid der Vertreibung, die Demütigung der Besatzung und das Erstickende einer Belagerung zu vermitteln, sodass wir einen Weg finden können, Seite an Seite zu leben.
Ich glaube an die Koexistenz, nicht an die endlosen Wiederholungen von Rache und Vergeltung. Und womöglich kann die verborgene Wahrheit Gazas nur dann wirklich zur Geltung kommen, wenn sie durch jemanden übermittelt wird, der nicht hasst. Ich bin mein ganzes Leben lang durch grausame Umstände auf die Probe gestellt worden, so wie viele andere in Gaza auch. Bis jetzt habe ich in jeder Härte die Chance gesehen, stärker zu werden.
Ich bin kein Prophet; ich bin ein menschliches Wesen und ein Gläubiger, der zu akzeptieren versucht, dass das, was meiner Familie widerfahren ist, Gottes Wille ist. Die Täter sind Menschen, die Gewalt ist von Menschenhand, aber meine Mission ist, das Äußerste zu versuchen, damit alles zum Guten führt.
Ich glaube, dass nichts ohne Grund geschieht und dass selbst der furchtbare Verlust meiner Familie einem Zweck dient. Der Tod meiner Töchter öffnete den Israelis die Augen für das Leiden der anderen Seite. Das ist die Botschaft, die ich verbreiten möchte: Betrachtet die Dinge einmal aus unserem Blickwinkel. Unsere Tragödie hat zum Waffenstillstand geführt und hat Herzen und Sinne der israelischen Öffentlichkeit, der gesamten palästinensischen Diaspora und der internationalen Gemeinschaft für das Elend geöffnet, dem die Menschen in Gaza Tag für Tag ausgesetzt sind. Ich glaube, dass es nach dieser Tragödie eine bessere Zukunft für uns geben wird, weil sie der Welt die Au gen geöffnet hat. Es gibt diese Hoffnung; die Vergangenheit ist da, um aus ihr zu lernen.
Anael Harpaz, die Israelin, die meine Töchter Bessan, Dalal und Shatha aus dem Peace Camp in Santa Fe kannte, kam Shatha und mich im Krankenhaus besuchen und blieb zehn Wochen an Shathas Seite. Ende März, gerade als wir wieder nach Jibalya zurückwollten, schickte sie mir eine E-Mail, in deren Betreffzeile stand: In Erinnerung an Bessan . Sie lautete folgendermaßen:
Ihr Lieben … nun endlich finde ich die Zeit, um um Bessan zu trauern. Bisher war ich zu beschäftigt und musste für Shatha und ihre Cousine Ghaida stark sein; jetzt aber ist der Damm gebrochen und die Tränen fließen, und mit ihnen entstand ein Gedicht. Jedem Einzelnen von euch danke ich für euren Einsatz für den Frieden. Möge Bessans Tod der Grundstein einer tief greifenden Veränderung sein und alle Menschen in dieser Region erfahren, was wir bereits in unserem Herzen tragen. Ich schicke euch ganz viel Liebe. Wenn jemand von euch etwas über diese schwierige Zeit oder über
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