Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
egal, was Assad tat oder nicht tat. Die Chance, sich wie in Libyen eines Störenfrieds des Imperiums zu entledigen, schien zu verlockend.
Schon im April – erheblich früher als in der westlichen Öffentlichkeit angenommen – waren plötzlich Waffen und viel Geld da. Hauptsponsoren und Organisatoren waren das kleine Katar sowie Saudi-Arabien. Die beiden begannen, den demokratischen Aufstand in Syrien in Abstimmung mit den USA systematisch zu kidnappen und für eigene politische Ziele einzusetzen. Die Rebellen wurden zunehmend von außen gesteuert.
In Phase zwei von Mai bis August 2011 traten immer mehr bewaffnete Kämpfer auf. Manche von ihnen waren Scharfschützen, die merkwürdigerweise auf beide Seiten schossen. Auf Demonstranten und auf Sicherheitskräfte. Sie heizten die Lage dramatisch auf. Dass es diese perversen, schießenden Provokateure in Syrien gab und gibt, ist unter Experten unstrittig.
Auch historisch sind derartige agents provocateurs ein bekanntes Phänomen. Ein Beispiel unter vielen ist der algerische Bürgerkrieg in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Für wen diese Mehrzweck-Scharfschützen ihr schmutziges Handwerk verrichteten, ist umstritten. Für die Regierung, für die Rebellen, für ausländische Geheimdienste? Besonders häufig werden Katar und Saudi-Arabien genannt. Jeder im Land vertritt eine andere Theorie.
Außerdem waren die Demonstrationen der ersten Monate leider nicht immer und überall so friedlich, wie häufig behauptet wird. Allein in den ersten vier Monaten des Aufstands starben über 400 namentlich registrierte Polizisten und Soldaten. 66 Auch ungezählte Rebellen und Zivilisten verloren ihr Leben. Schon Jean Cocteau hatte erkannt: »Die Sauberkeit einer Revolution dauert höchstens 14 Tage.« Goethe sah das ähnlich: Erst geht es nur um die »Abstellung von Missbräuchen. Aber ehe man sich versieht, steckt man tief in Blutvergießen und Gräueln.« 67
Obwohl Demonstrieren immer gefährlicher wurde, wuchsen die Kundgebungen weiter an. Nicht nur Anhänger der Opposition, auch Regierungsanhänger gingen auf die Straße. Die Sympathisanten Assads veranstalteten mit staatlicher Unterstützung Großdemonstrationen, an denen teilweise über eine Million Menschen teilnahmen. Auch sie forderten Demokratie, aber mit Assad. Teilnehmer waren vor allem Alawiten, Christen und Mitglieder der sunnitischen Mittel- und Oberschicht. Sie wollten der Welt zeigen, dass Assads Rückhalt in der Bevölkerung größer war als der der Assad-Gegner.
Zu größeren Gefechten kam es in dieser Zeit selten. Die Rebellen waren den staatlichen Sicherheitskräften militärisch noch zu sehr unterlegen.
In der dritten Phase, die von August bis Ende 2011 dauerte , präsentierten sich die bewaffneten Rebellen als »Schutztruppen« der friedlichen Demonstranten. Doch sie spielten diese Rolle nie wirklich. Wo sie tatsächlich mit Demonstranten auftraten, suchten sie gezielt die bewaffnete Auseinandersetzung mit den staatlichen Sicherheitskräften. Es kam zu immer schwereren Gefechten.
Beide Seiten gingen dabei äußerst brutal vor. Immer mehr Rebellen, Zivilisten, Soldaten und Polizisten starben. Die bewaffneten Rebellen griffen häufig alawitische Zivilisten an, die sie pauschal als Vertreter des Regimes betrachten. Und als Ketzer. Die Kämpfe wurden sektiererisch. Religiöse Motive wurden immer bedeutsamer. Die Armee schlug gnadenlos zurück.
In der vierten Phase, die Anfang 2012 begann und bis heute andauert , wurde das Land mit Geld und Waffen überschwemmt. Ab März 2012 auch mit schweren Waffen. Dahinter stehen als Financiers und Organisatoren weiterhin Katar und Saudi-Arabien und zunehmend auch westliche Staaten.
Die USA geben politische Schützenhilfe. Nichts geschieht ohne ihre Billigung. Offiziell sprechen sie sich gegen »militärische Interventionen« des Westens aus, obwohl sie über ihre Stellvertreter seit Langem intervenieren.
Es herrscht offener Krieg. Große Demonstrationen werden seltener. Die Demokratiebewegung in Syrien hat ausgespielt.
Stattdessen haben sich die Rebellen in atemberaubender Geschwindigkeit radikalisiert. Nach Angaben innersyrischer demokratischer Oppositioneller – und anderer in der Vergangenheit stets zuverlässiger Quellen – stellt sich die Widerstandsfront Mitte 2013 wie folgt dar:
• Es gibt etwa 100000 bewaffnete Rebellen.
• Über 80 Prozent davon sind inzwischen religiös motivierte Extremisten unterschiedlicher Richtungen.
• Unter ihnen
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