Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
Könige und zwei Kaiser mussten die Bürger über sich ergehen lassen. Immer wieder versank das Land in Strömen von Blut, Leid und Elend. Weil manche Politiker, frei nach Karl Marx, statt auf »liberté, egalité, fraternité« auf Infanterie, Kavallerie und Artillerie setzten. 58
Am Tag nach Mubaraks Rücktritt frage ich ein Dutzend junger Ägypter, was die Revolution ihnen persönlich bringen werde. Alle sind überzeugt, dass sich ihr Einkommen innerhalb des nächsten Jahres verdoppeln oder verdreifachen werde. Dass sie bald eine viel größere Wohnung besitzen würden als jetzt. Dass alles besser und schöner werde.
Alle setzen Demokratie mit Wohlstand gleich. Alle glauben, dass beides sehr schnell kommen werde. Ich habe nicht widersprochen. Obwohl jede demokratische Regierung schon aufgrund dieser riesigen Erwartungen vor fast unlösbaren Aufgaben stehen wird.
Doch darüber will ich an diesem Tag nicht diskutieren. Alle sind so unendlich glücklich. Aber ich befürchte, dass ich heute nur die erste Etappe eines langen, steinigen Weges erlebt habe.
Revolutionäre Tage in Libyen
Revolutionen sind nicht nur berauschend. Sie sind auch ansteckend. Zumindest in ihrer Anfangsphase kennen sie keine Grenzen. Schon am 17. Februar 2011 erreichte die demokratische Welle Libyen. Über Kairo schlugen wir uns Anfang März mit einem Taxi Richtung Bengasi durch. Das sind über 1200 Kilometer.
Spätabends erreichten wir die Grenze. Dort, im Niemandsland zwischen Ägypten und Libyen, waren unzählige geflohene Gastarbeiter gestrandet. Aus Niger, Mali, dem Tschad und Bangladesh. Wer Glück im Unglück hatte, hatte einen Platz in den hoffnungslos überfüllten Hallen der Pass- und Zollkontrolle ergattert. Tausende mussten im Freien, auf den Gehsteigen und Parkplätzen übernachten. Aus Decken und Plastiktüchern hatten sie sich Zelte gebastelt. Doch sie schützten nur unzureichend vor dem Nieselregen und derWüstenkälte.
Viele Flüchtlinge behaupteten, sie seien »verjagt« worden. Auf ihren Handys zeigten sie Bilder bestialischer Gewalt. Man habe sie wegen ihrer Hautfarbe für Söldner Gaddafis gehalten. Deshalb seien manche gelyncht worden. Ich konnte und wollte ihnen die blutigen Bilder nicht glauben. Meine edlen Rebellen taten so etwas nicht.
58 Vgl. Karl Marx in Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte : »Sooft während dieser Ferien der verwirrende Lärm des Parlaments verstummte und sein Körper sich in die Nation auflöste, zeigte sich unverkennbar, daß nur noch eins fehle, um die wahre Gestalt dieser Republik zu vollenden: seine Ferien permanent machen und ihre Aufschrift: liberté, égalité, fraternité, ersetzen durch die unzweideutigen Worte: Infanterie, Kavallerie, Artillerie!«
Nach Libyen wollte keiner der Flüchtlinge zurück. Und Ägypten ließ sie nicht einreisen. Ihre Heimatländer aber hatten »organisatorische Probleme«, sie zurückzuholen. Eigentlich wollte sie niemand mehr.
Es fehlte an allem. An sauberem Trinkwasser, an Essen, Kleidung und Decken. Die hygienischen Verhältnisse waren unbeschreiblich. Die Flüchtlinge aus Libyen hatten keine Zukunft. Sie waren Strandgut der Revolution.
Meine Laune wurde nicht besser, als ich feststellte, dass ein Bus beim Zurücksetzen meinen Reisekoffer überrollt und in seinem Radkasten zerquetscht hatte. Wie ich die Überreste meines Koffers durch Libyen transportieren sollte, war mir unklar. Sollte ich meinen Rasierapparat jetzt in die Hosentasche stecken und den Rasierspiegel um den Hals hängen? Was war mit meinen verdreckten Klamotten, meinem durchnässten Schlafanzug? Oder war das ein Wink des Schicksals?
Die Stimmung war gedrückt. Wegen des Flüchtlingselends und wegen des kalten Nieselregens. Und bei mir auch noch wegen der Zerlegung meines »bruchsicheren« Koffers in seine Einzelteile.
Diese Missstimmung ändert sich schlagartig, als wir kurz vor Mitternacht am Stadtrand von Tobruk unseren Gastgeber treffen. Es ist, als schiene plötzlich die Sonne. Vor uns steht mit unwiderstehlichem Lächeln der 54-jährige weißhaarige, weißbärtige und für einen Libyer sehr weißhäutige Abdul Latif. Alles an diesem Mann strahlt. Der Mund, die Mimik, die Gestik, die Stimme. »Willkommen im freien Libyen!«, lacht er und nimmt jeden in die Arme. Jeder von uns hat plötzlich einen Freund, einen Bruder.
Nur vier Tage verbringen wir mit Abdul Latif. Sie sind wie ein ganzes Leben. Alle mögen ihn. Alle Türen, an die er klopft, öffnen sich. Abdul Latif ist nie
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