Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
durchgelassen.
Das menschenleere Bizerta macht einen düsteren Eindruck. Die Innenstadt ist stark beschädigt. Die eisernen Rollläden der Geschäfte haben große Einschusslöcher, einige Gebäude sind nur noch Ruinen. Mehmed entschwindet in der kleinen Seitenstraße, in der er früher wohnte. Ich beginne, mit meiner kastenförmigen Box-Kamera Fotos der zerstörten Gebäude zu machen. Französische Militärpolizisten, die mit einem Jeep vorbeifahren, sind darüber so erstaunt, dass sie zunächst nicht reagieren. Erst nach einer Weile dämmert ihnen, dass hier möglicherweise etwas geschieht, was in ihren »Kriegsrechtserlassen« nicht vorgesehen ist.
Sie kehren um und verlangen nach meinen Papieren. Was ich hier mache, wollen sie wissen. »Fotografieren«, antworte ich höflich. Und schon sitze ich – nach einem unmissverständlichen Wink mit ihren Maschinenpistolen – auf ihrem Jeep und werde zum Hauptquartier gefahren.
Das Verhör durch den französischen Stadtkommandanten von Bizerta beginnt schroff. Doch es nimmt einen unerwarteten Verlauf. Wir stellen fest, dass ich mit seinen Verwandten in Paris eng befreundet bin. Er kann es kaum fassen, ich auch nicht. Plötzlich sprechen wir über ganz andere Dinge als über mein unerlaubtes Fotografieren und meine sonstigen Verstöße gegen den Ausnahmezustand. Es ist ein gutes Gespräch. Er ist ein intelligenter und sympathischer Mann. Und doch ist er mitverantwortlich für das Massaker von Bizerta. Wie ist das bloß möglich, frage ich mich. Sehen so Mörder aus?
Ich habe mir diese Frage bei Soldaten und anderen staatlichen Sicherheitskräften oft gestellt. Inwieweit sind Gräueltaten, an denen sie mitwirken, auch ihre Schuld? Die Brutalität der französischen Streitkräfte gegen die Bevölkerung von Bizerta war so groß, dass ihre Unrechtmäßigkeit jedem französischen Soldaten bewusst gewesen sein musste. Wann kommt der Punkt, an dem ein Offizier sagen muss: »Das mache ich nicht mit!«? Oder gibt es, wenn die Entscheidung der Politiker einmal gefallen ist, gar keine realistische Chance mehr, den Lauf der Dinge aufzuhalten?
Die Politiker, die die Entscheidungen getroffen haben, sitzen wie üblich weitab vom Schuss. Wann haben Regierungschefs und Kriegsminister jemals schlaflose Nächte verbracht, weil sie an die Opfer ihrer Entscheidungen dachten? An die, die jetzt den Rest ihres Lebens als Krüppel verbringen müssen?
Der Stadtkommandant von Bizerta scheint im persönlichen Umgang trotzdem ein liebenswerter Mann zu sein. Er weist seine Militärpolizisten an, mir die Stadt genau zu zeigen. Vor allem jene Straßen, in denen die schwersten Kämpfe stattgefunden haben.
Nachdenklich fahre ich durch die zerbombte Geisterstadt. Die jungen Militärpolizisten, die mich nun für einen persönlichen Freund ihres obersten Vorgesetzten halten, zeigen mir die interessantesten Schauplätze der Kämpfe. Die schwersten Zerstörungen, das getrocknete Blut der Erschossenen. An den spektakulärsten Schauplätzen machen sie für mich Fotos.
Dann liefern sie mich bei Mehmed ab. Der erschrickt fast zu Tode, als ich an der verabredeten Stelle mit Militärpolizei eintreffe. Er befürchtet das Schlimmste. Doch die jungen Polizisten sind einfach nur nett. Schweigend fahren wir nach Tunis zurück.
Hier erlebte ich auch schöne Tage. Schon damals war ich leidenschaftlicher Langschläfer. Die 20-jährige Jasira, die Junis den Haushalt führte, musste morgens meist lange und heftig an meine Tür klopfen, um mich wenigstens gegen 10 Uhr wach zu bekommen. Eines Tages wurde ihr das zu mühsam. Sie kam einfach in mein Zimmer und warf mir ein paar Kissen an den Kopf.
Ich öffnete mühsam die Augen und sah, wie sie lachend vor mir stand. »Aufstehen!«, sagte sie, »der Tag ist fast rum.« Doch ich wollte noch eine Runde schlafen. Erst als erneut Kissen an meinen Kopf flogen, richtete ich mich halb auf und schaute sie schlaftrunken an. Jasira war Berberin, dunkelblond, eine Schönheit. Ihre weißen Zähne blitzten fröhlich, wenn sie lachte. Und sie lachte viel. Vor allem jetzt über mein verschlafenes Gesicht.
Ich nahm eines der Kissen und feuerte es zurück. Eine lustige Kissenschlacht begann. Jasira lachte noch mehr. Wir hatten beide heiße Köpfe. Plötzlich ging sie zur Tür und schaute mich verschmitzt an. Dann drehte sie langsam den Schlüssel um und versteckte ihn in ihrem Kleid. »Den findest du so schnell nicht«, prustete sie und stürzte sich balgend auf mich. In der Tat
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