Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
wieder verschwinden. Wie verglühende Feuerwerkskörper. »Sternschnuppen«, sage ich. »Leuchtraketen«, erwidert Julia. Angstvoll blickt sie nach oben.
»Ein Flugzeug, das ist ein Flugzeug!«, schreit sie plötzlich verzweifelt und wirft sich zu Boden. Yussuf und ich schmeißen uns ebenfalls in den Wüstensand. Robbend suchen wir Deckung. Aber es gibt wieder nur niedriges, dürres Strauchwerk, das keinen Schutz bietet. Deutlich erkennbar bewegt sich ein großer, rot leuchtender Gegenstand in unsere Richtung. Er wird immer größer. Hundert Meter über uns blitzt er auf, als explodiere er. Eine Rakete, eine Bombe, ein Leuchtsignal?
Julia versucht tapfer, nicht zu weinen. Ich spüre, sie kann dieses Höllenspektakel nicht mehr lange ertragen. Wir rappeln uns auf und laufen weiter. Manche Dünen übersteigen wir, manche umlaufen wir. Mehrfach frage ich Julia nach Abdul Latif. Ich würde so gerne mit ihm sprechen. Julia meint, das hätte ich jetzt schon zehnmal gesagt. Ich kann nicht weiterreden, weil es hinter uns erneut kracht. Und weil ich einen Kloß im Hals habe, wenn ich von Abdul Latif spreche. Ich versuche, Julia zu erklären, dass wir einen Menschen wie Abdul Latif nie mehr finden würden. Unseren libyschen Gandhi.
Nach zwei Stunden frage ich Yussuf, wie weit es noch bis Adschdabiya sei. »Drei Kilometer«, antwortet er. Nach einer weiteren Stunde frage ich wieder. Ich bekomme die gleiche Antwort: »Drei Kilometer.« Ich gebe es auf. Für Libyer scheinen »drei Kilometer« etwas anderes zu bedeuten als für Europäer. Mein europäischer Verstand sagt mir, dass wir bei unserem Tempo erst morgen früh gegen 11 Uhr in Adschdabiya sein werden.
Ich kann mit Julia und Yussuf nicht über meine Sorgen sprechen. Vor uns liegen die Stellungen der Rebellen. Wenn wir Pech haben und Yussuf zu weit vor uns herläuft, werden sie uns für Gaddafi-Söldner halten. Die Gefahr, dass wir ins Feuer der Rebellen laufen, ist mindestens so groß wie die, von den Truppen Gaddafis überrollt zu werden.
Mit Grauen denke ich an jene afghanische Nacht im Sommer 1980, als wir plötzlich in die Läufe von einem halben Dutzend Kalaschnikows blickten. Wir waren in eine Stellung konkurrierender Mudschaheddin geraten. Im Dunkel der Nacht hatten sie uns für Agenten gehalten. Genau in dieser Situation befinden wir uns wieder. Nirgendwo ist es gefährlicher als zwischen den Fronten.
Ich lege mich hin, um auszuruhen. Am liebsten würde ich jetzt schlafen. Julia und Yussuf lassen sich ebenfalls nieder. Auch sie finden das Liegen angenehmer. In der Ferne hören wir Hunde bellen. Wie verteidigt man sich in der Wüste gegen angreifende Hunde? Fast verzweifelt suche ich nach einem Stock. Aber so etwas gibt es hier nicht. Plötzlich sehen wir dort, wo das Bellen herkommt, ein schwaches Feuer. Wo Feuer ist, sind auch Menschen, gibt es Wasser. Doch wer sind diese Menschen?
Wir pirschen uns an das kleine Feuer heran und erkennen ein winziges rundes, dunkelbraunes Zelt. Ich versuche, Yussuf zu erklären, dass das auch ein Vorposten der Rebellen sein könne. Doch Yussuf hat Durst und folgt nur noch seinen Instinkten. Wie ein Panther schleicht er sich seitlich an das Zelt heran. Dann gibt er Entwarnung. »Wasser«, ruft er halblaut.
Ein schüchterner 15-jähriger Hirte aus dem Tschad empfängt uns. Er hütet die Ziegen eines Mannes aus Brega. Sein Lager ist winzig und armselig. Neben einer alten Matratze steht ein kleiner Hocker. Daneben ein Blechtopf und eine Blechdose. Aus einem schmuddeligen Eimer gießt er Wasser in die Dose. Auch brackiges Wasser aus einer rostigen Dose kann köstlich sein. Langsam trinkt jeder von uns ein paar Schlucke. Immer wieder gießt der kleine Hirte nach.
Der Junge erzählt von einem Dorf ganz in der Nähe. Dort könne man telefonieren. Wir können es kaum glauben. Auch weil der Junge sich weigert mitzugehen. Obwohl ich ihm 20 Dollar gebe, begleitet er uns nur 100 Meter. Dann verabschiedet er sich hastig. Er zeigt auf den Himmel. Er hat Angst, beschossen zu werden.
Ich erkläre Yussuf, dass er jetzt wieder die SIM -Karte in sein Handy einlegen könne. Im Schutz der Dunkelheit könnten wir telefonisch um Hilfe bitten. Wir seien zwar höchstens 20 Kilometer vom Flammental entfernt. Doch für ein paar Minuten könne man das Risiko eines Telefonats eingehen.
Yussuf lächelt verlegen. Die Batterie sei leer, zeigt er mit seinen Händen an. Zu oft hat er Julia und den Sandsturm fotografiert. Es ist zum Heulen. Zum ersten Mal
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