Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
hämmern, bis er aufmacht. Ich warte, bis er zu sich gekommen ist. Dann sage ich langsam: »Abdul Latif ist tot.« Belal schaut mich fassungslos an. Ich wiederhole: »Abdul Latif ist tot«, und nehme ihn in die Arme. Doch Belal ist völlig erstarrt. Jeder Muskel seines Körpers ist angespannt. Versteinert schaut er mich an. Kein Wort kommt über seine Lippen. Er ist grau im Gesicht. Ich versuche zu erklären, was passiert ist. Doch Belal kommt aus seiner Schockstarre nicht heraus.
Als ich eine halbe Stunde später sein Zimmer verlasse, schaut er noch immer ausdruckslos ins Leere. Irgendetwas in ihm ist zerbrochen – wahrscheinlich die größte Freundschaft seines Lebens. Und vielleicht auch das Vertrauen zu mir.
Als ich um 5 Uhr ins Bett falle, spüre ich, dass auch in mir vieles zerstört ist. Doch ich weiß, dass ich kein Recht habe, mich jetzt Gefühlen hinzugeben. Ich denke an Abdul Latifs Familie. Was ist meine Trauer gegen ihren Schmerz?
Mein Nachtgebet besteht heute nur aus einem verzweifelten Satz: »Warum hast du mich da rausgeholt?«
Der Tag danach
Als ich am nächsten Morgen gegen 9.30 Uhr in der Lobby des Hotels auftauche, scheint bereits alles bekannt zu sein. Julia und Khaled ziehen mich in eine Ecke. Sie schirmen mich vor den Journalisten ab, die jetzt Interviews haben wollen. Wilde Gerüchte machen die Runde. Ein Angriff von Gaddafis Truppen auf zwei Deutsche scheint eine gute Geschichte zu sein. Das Interesse legt sich etwas, als sich herumspricht, dass die beiden Deutschen überlebt haben. Ein toter Deutscher wäre spannender gewesen, meint die Londoner Redaktion der BBC -Korrespondentin.
Trotzdem dringen die meisten Journalisten auf eine Pressekonferenz. Bis auf einen libyschen Bekannten, der für die Sicherheit des schon mehrfach angegriffenen Ouzu-Hotels zuständig ist. Er warnt mich, Gaddafi offen anzugreifen. In Bengasi gebe es Hunderte Agenten Gaddafis. Fast der gesamte Geheimdienst sei noch in der Stadt. Seine Mitarbeiter seien nur beurlaubt worden. Einige seien noch sehr aktiv, wie der Tod des Kameramanns von Al-Dschasira zeige.
Belal, der noch immer kein Wort mit mir gesprochen hat, bringt mich zu zwei Brüdern Abdul Latifs. Mit gesenkten Köpfen stehen sie in der Lobby des Hotels. Weinend umarmen sie mich. »Danke, dass Sie sein Freund waren«, sagen beide. »Und entschuldigen Sie, dass Sie all das mitmachen mussten!«
Ich kann es nicht fassen: Ihr Bruder ist gestorben, und sie entschuldigen sich für meine Unannehmlichkeiten? »Seien Sie nicht traurig«, sagen sie, »er hat jeden Tag von Ihnen erzählt.« Dann verabschieden sie sich. Es gibt eine Art der Gastfreundschaft in der arabischen Welt, die all unsere Vorstellungen von menschlicher Größe übersteigt.
Verloren stehe ich in der Hotelhalle. Bis mich Julia zur Pressekonferenz zerrt. Sie hat gar nicht geschlafen. Sondern Fotomaterial sortiert, Filme geschnitten und Protokoll geschrieben. Das professionelle Aufarbeiten jedes Tages war zwar zu Beginn unserer Reise fest vereinbart worden. Dennoch bewundere ich Julias Konsequenz. Staunend sehe ich die Aufnahmen, die sie unter Lebensgefahr während des Beschusses auf der Todesstraße und während ihrer Flucht zur Düne gemacht hat. Immer wieder hatte sie ihre Kamera hochgerissen, um festzuhalten, was Abdul Latif das Leben kostete und unser Leben in jeder Sekunde bedrohte. Die kleine Julia war im Angesicht des Todes die Tapferste von uns gewesen.
Nach der Pressekonferenz spricht mich Belal zum ersten Mal wieder an. Fast regungslos sagt er: »Wir müssen aufbrechen. Die Gruppe ist durch Ihre Pressekonferenz in Gefahr. Sie haben Gaddafi frontal angegriffen. Das war zwar richtig. Aber hier wimmelt es von Agenten. Gaddafis Truppen marschieren jetzt Richtung Bengasi. Heute Morgen haben sie Adschdabiya eingenommen. In wenigen Tagen können sie hier sein. Wir müssen weg!«
Es folgt eine heftige Diskussion. Ich möchte so lange wie möglich bleiben. Um mit Abdul Latifs Familie zu sprechen. Und um Krankenhäuser zu besuchen. Doch mir ist klar, dass ich meinen Freunden jetzt entgegenkommen muss. Die Truppen Gaddafis rücken in der Tat immer näher. Wir verständigen uns, in der Nacht loszufahren.
Dann bringen uns Bekannte ins Zentralkrankenhaus von Bengasi. Dort will uns erst niemand durchlassen. Dann schaltet sich ein Arzt ein. Er will, dass wir das wahre Antlitz des Krieges sehen. Die ersten Verwundeten aus Adschdabiya sind bereits hier. Wir treffen den jungen Rebellen, der uns im
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