Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
Kugelsplitter, den mein linkes Innenknie bei der Beschießung abbekommen hat. Immer wenn ich zu einer Kernspin-Untersuchung muss, spielen die Geräte verrückt. Auch heute noch. Sie erinnern mich an den Tod eines jungen Mudschahid im eiskalten afghanischen Winter 1984.
Die Krankenhäuser Pakistans
Nichts war in jenen 80er-Jahren trostloser und elender als die Krankenhäuser Pakistans. Im Behelfskrankenhaus von Quetta sah ich Hunderte schwerverletzte afghanische Kinder. Sie lagen auf ärmlichen Pritschen in kargen Räumen. Ihre Wunden an Kopf, Armen und Beinen waren meist offen. Man sah zerrissene, bräunliche Muskelstränge. Desinfektionsmittel, Verbandsstoff gab es kaum, Schmerztabletten auch nicht. Mit großen, fragenden Augen schauten mich die Kinder an. Ich versuchte wegzuschauen, wollte raus an die frische Luft. Aber dazu musste ich wieder durch lange Reihen verletzter, wimmernder Kinder.
Was hatten diese Kinder der großen Sowjetarmee angetan? Waren die stolzen Kriegsherren in Ost und West jemals in Kinderkrankenhäusern der Länder, die sie bombardierten? Wissen unsere Kriegspolitiker, was sie tun?
1984 bin ich in einem Krankenhaus von Peschawar. Im letzten Krankenzimmer, das ich besichtige, sehe ich Abdul. Unter einem dunklen Metallgestell liegt das, was nach einem sowjetischen Brandbombenangriff von ihm übrig geblieben ist. 27 Kilo versteifter Gelenke, verbrannten, faulenden, übel riechenden Fleisches. Im linken Knie hat er ein Loch von der Größe eines Fünf-Mark-Stücks. Man kann hindurchschauen. Nur der Kopf ist heil geblieben.
Abdul friert. Man hat ihm daher – wie Radrennfahrern jener Zeit – einen Lederhelm aufgezogen. Zwei Jahre liegt er schon hier. Seit Verwandte und Freunde ihn über den Hindukusch nach Pakistan geschleppt hatten. Er hat nach Auskunft der Ärzte nur noch wenige Wochen zu leben.
Ich will gerade das nach Verwesung und Desinfektion riechende Zimmer verlassen. Da flüstert mir dieser verbrannte, sterbende kleine Junge mit dem Radrennfahrerhelm einen Satz zu, der sich wie ein Kletterhaken in mein Herz krallt: »Nimm mich mit!«
»Nimm mich mit«, sagt der sterbende Junge, der aussieht wie der Tod. Ich bin schon fast durch die Tür, fast aus dem Raum und weiß doch sofort, dass Abduls Leid ein Teil meines Lebens sein wird. Gegen diesen Satz habe ich keine Gegenwehr.
Ich ließ Abdul nach Deutschland ausfliegen. Zwei Jahre lang brachen deutsche Ärzte ihm immer wieder die Knochen. Wie eine Kartoffel schälten sie seinen Kopf und stanzten kleine Haut-Inseln auf seinen verbrannten Körper. Ich wusste nicht, dass ein Mensch so viel Schmerz ertragen konnte. Jede Woche, immer wenn ich aus Bonn in meinen Wahlkreis nach Tübingen zurückkam, war ich bei Abdul im Krankenhaus. Jedes Mal weinte alles in mir.
Schon seinetwegen werde ich immer gegen Krieg sein. Und gegen die, die ihn verharmlosen. Krieg ist das größte aller Verbrechen.
Abdul war für mich das Symbol des geschundenen Afghanistan. Gestern und heute. Ich habe ihm vor zehn Jahren ein Buch gewidmet. Heute lebt er stolz mit Krücken in Afghanistan. Er hat sechs Kinder: drei Mädchen, drei Buben.
Spielzeugbomben
Ich habe damals alles getan, um mitzuhelfen, diesen Krieg zu beenden. Zusammen mit der Jungen Union veranstaltete ich in meinem Wahlkreis Tübingen bei Regen und Schnee Fackelzüge gegen den Krieg. Mit Unterstützung der SPD erzwang ich jedes Jahr im Deutschen Bundestag eine Afghanistan-Debatte. Unter den missmutigen Blicken des Bundestagspräsidenten zeigte ich Fotos schwerverletzter afghanischer Kinder. Und eines Tages auch eine der berüchtigten Spielzeugbomben der Sowjetunion.
Lange hatte ich gebraucht, bis ich in Deutschland eine dieser Schmetterlingsbomben fand, die in Afghanistan zu Tausenden wirbelnd, kreiselnd vom Himmel fielen. Die afghanischen Kindern die Hände zerrissen, das Gesicht zerfetzten, das Leben zerstörten. Waffenproduzenten sind erfinderisch.
In Stuttgart spürte ich einen Mann auf, der eine intakte Bombe ohne Sprengstoff besaß. Wir verabredeten uns am Flughafen von Stuttgart, wo ich meist freitagsnachmittags aus Bonn kommend landete. In dieser Maschine saßen oft hochrangige Politiker. Minister, Staatssekretäre sowie ein bekannter EU -Kommissar.
Kurz vor der Landung gibt der Kapitän per Lautsprecher durch, alle Passagiere sollten bitte nach der Landung sitzen bleiben, »damit Herr Dr. Todenhöfer als Erster aussteigen« könne. Mir ist das so peinlich, dass ich Gänsehaut bekomme. Was
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