Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
breiten, ausgetrockneten Flussbetts. Links und rechts wurde es von 300 Meter hohen felsigen Bergrücken eingerahmt. Die Landschaft war karg und grau.
Ich wusste, dass die Fahrt riskant war. Die Mudschaheddin wussten es auch. Doch ihr Führer Musafarudin und sein 18-jähriger Adjutant Khairullah, der sich besonders fürsorglich um uns kümmerte, waren guten Mutes. Sie sagten, sie hätten das Umfeld der sowjetischen Kaserne fest unter Kontrolle. Der Krieg sei noch lange nicht entschieden. »Das afghanische Volk hat noch nie einen Krieg verloren«, murmelte der kleine Khairullah, der sonst immer so fröhlich war, mit ernstem Gesicht. »Weil wir nie aufgeben.« Er sah plötzlich sehr erwachsen aus.
Nach einer Weile hielt unsere Autokolonne. Claus Bienfait und ich gingen zur Mitte des Flussbetts. Wir wollten schauen, ob es nicht wenigstens ein kleines Rinnsal gab, in dem wir uns die Hände waschen konnten.
In diesem Augenblick hören wir von den Bergkämmen links und rechts das Tackern von Maschinengewehren. Wie Hornissenschwärme kommen die Kugeln angeflogen, platzen auf die Kieselsteine, wirbeln Sand auf.
Wir werfen uns zu Boden. Doch das vertrocknete Gesträuch des Flusses bietet kaum Deckung. Der Beschuss wird intensiver. Claus Bienfait versucht zu filmen, aber Karim ist mit den Batterien der Kamera weit hinter ihm. Mühsam robbt er sich an Bienfait heran. Ich brülle: »Filmen!« Bienfait zischt zornig zurück: »Ja doch!« Er hat zwar die Kamera im Anschlag, aber noch immer keine Batterien. Dann endlich kann er filmen. Er dreht ohne Rücksicht auf die Kugeln, die teilweise nur knapp über uns hinwegzischen oder ziemlich nahe einschlagen.
Während wir hinter knorrigen Sträuchern in Deckung liegen, ist ein Teil der Mudschaheddin von den Pritschenwagen abgesprungen. Auch der kleine Khairullah. Wie Gämsen stürmen sie die steilen Hänge hoch, um die russischen Maschinengewehrstellungen auszuschalten. Gleichzeitig rast einer der Pritschenwagen Sand aufwirbelnd Richtung Garnison. Etwa die Hälfte der Mudschaheddin bleibt hinter einem Felsvorsprung zu unserem Schutz zurück.
Zehn lange Minuten werden wir in dem Flussbett beschossen, rattern die Maschinengewehre. Zehn Minuten, die uns wie eine Ewigkeit vorkommen. Im linken Knie habe ich ein taubes Gefühl. Wahrscheinlich vom langen Liegen auf den kantigen Flusssteinen. Vorsichtig kriechen wir zu dem Felsvorsprung, hinter dem die Mudschaheddin in Deckung gegangen sind. Auf dem Berg wird weitergekämpft. Immer wieder hören wir das Bellen der Maschinengewehre. Dann wird es still.
Wir warten und warten. Immer sorgenvoller. Geschütz- und Gewehrfeuer ist nicht mehr zu hören. Sind die Mudschaheddin in eine Falle geraten? Ihr Anführer Musafarudin wird immer unruhiger. Er weiß, bei Einbruch der Dunkelheit müssen wir zurück. In den umliegenden Bergen gibt es offensichtlich doch noch starke Stellungen der Sowjets. Anders, als die Mudschaheddin angenommen hatten.
Es dämmert bereits, als unser Pritschenwagen endlich in der Ferne auftaucht. Als die Mudschaheddin sehen, dass Claus Bienfait sie filmt, recken sie jubelnd ihre Maschinenpistolen in die Höhe. Sie haben ihr Gefecht wohl gewonnen. Doch als Bienfait die Kamera wieder einpackt, werden alle merkwürdig schweigsam. Dann ziehen sie sich mit Musafarudin zu einer Besprechung zurück.
Wir hören lange nichts. Dann steigen alle in ihre Pritschenwagen. Keiner spricht ein Wort. Wir fahren zurück. Doch wo ist der kleine Khairullah? Karim raunt uns zu: »Er ist tot. Bauchschuss. Er ist verblutet.« Auch drei Russen sind gefallen. Ich schlage die Hände vors Gesicht, um mein Entsetzen nicht zu zeigen.
Während wir durch die Nacht fahren, herrscht im Wagen eine bedrückte, betretene Stimmung. Der kleine, lustige Khairullah wird uns nie mehr mit seinen Späßen aufheitern. Alle wissen, dass sein Tod völlig überflüssig war. Und dass wir mitschuld sind. Auch ich.
Wir mussten nicht unbedingt wissen, ob die russische Garnison am Ende der Welt wirklich von Mudschaheddin umstellt war. Für die Erkenntnis, dass Fronten im Guerillakrieg ständig wechseln, musste niemand sterben. Afghanistan durfte zwar nicht aus der öffentlichen Diskussion verschwinden. Aber musste dafür ein junger Mensch – mussten dafür vier junge Menschen sterben? Ich werde diese Frage ein Leben lang mit mir herumschleppen. Warum mussten Menschen wie Khairullah und Abdul Latif für mich sterben?
Mit mir herumtragen werde ich auch den winzigen
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