Talitha Running Horse
1. Kapitel
»Tally, wo steckst du?«
Ich hob den Kopf von meiner Zeichnung, legte den Bleistift beiseite und klopfte an die Fensterscheibe meines kleinen Zimmers. DrauÃen vor unserem Wohntrailer stand mein Vater vor der offenen Motorhaube seines alten Dodge Pick-up und machte ein besorgtes Gesicht.
Hoffentlich nichts Schlimmes ,dachte ich. Dad hatte keinen festen Job, das Geld war knapp, und er brauchte den Truck, um zu den Leuten zu fahren, die ihn mit verschiedenen Arbeiten beauftragten. Mit seinen geschickten Händen konnte mein Vater alles reparieren: Autos, Zäune, Dächer. Dad machte sogar Klempnerarbeiten. Das hatte sich herumgesprochen im Reservat, und so hielten wir uns über Wasser. Mein Vater winkte mich nach drauÃen. Auf der Treppe erwischte mich ein kalter Windstoà und schlug mir die langen Haare über das Gesicht. Es war schon Mitte April, aber vor einer Woche hatte der Winter noch einmal Schneeschauer von Norden her über die Prärie geschickt. Die Menschen im Reservat sehnten sich nach dem Frühling. Auch wir hatten Mühe gehabt, unseren Trailer über die langen Monate hinweg warm zu halten. Die elektrisch betriebenen Heizkörper reichten nicht aus, und so hatte mein Vater immer für genügend Holz sorgen müssen, damit wir den gusseisernen Ofen in der Wohnküche anheizen konnten.
Ich sprang zurück ins Warme, flocht meine Haare zu einem Zopf und umschlang das Ende mit einem bunten Gummiband. Bevor ich wieder nach drauÃen ging, schlüpfte ich in meine warme Jacke. Der Wind schlug die Tür hinter mir zu, bevor ich es tun konnte.
»Was ist denn los, Dad? Ist der Pick-up schon wieder kaputt?«
Unter der Krempe seines schwarzen Hutes hervor blickte mein Vater mich an. »Ja, ich bin mit Müh und Not gerade noch bis nach Hause gekommen. Aber es war bloà ein lecker Schlauch und ich konnte ihn reparieren. Ich hoffe, jetzt hält es für eine Weile.« Er rieb seine ölverschmierten Finger an einem alten Tuch ab, aber sauber wurden sie davon nicht.
»Und warum hast du mich gerufen?«
»Ich wollte dich fragen, ob du Lust hast, Tante Charlene zu besuchen. Ich will versuchen ihre Heizung wieder in Gang zu bringen.« Tante Charlene war die Frau von Dads Bruder Frank. Onkel Frank war vor einem Jahr im Irakkrieg gefallen. Seit er nicht mehr lebte, kümmerte sich mein Vater so gut es ging um seine Schwägerin und ihren Sohn Marlin. Die beiden wohnten in einem hellblauen Holzhaus unweit der StraÃe zwischen Wounded Knee und Manderson, ungefähr zwanzig Minuten von uns entfernt.
Meine Tante hatte gestern Abend angerufen, weil ihre Heizung kaputt war. Dad hatte sich gleich noch auf den Weg zu ihr gemacht und den Schaden begutachtet. Heute Vormittag war er in die Stadt gefahren, um einige Teile zu besorgen, und auf der Rückfahrt hatte er dann Schwierigkeiten mit seinem alten Pick-up-Truck bekommen.
»Ich weià nicht, Dad.« Ich wand mich ein wenig, weil ich nicht mitfahren wollte. »Ich muss noch Hausaufgaben machen.«
Ich ging nicht gerne zu Tante Charlene. Vor allem wegen Marlin, meinem Cousin. »Halbblut«, nannte er mich und machte sich über meine grünen Augen und meine lockigen Haare lustig. Er spottete darüber, dass meine Mutter eine WeiÃe war, und betonte bei jeder Gelegenheit, dass sie mich und meinen Vater verlassen hatte.
»Heute ist Samstag«, sagte Dad. »Die Hausaufgaben kannst du doch auch morgen machen.«
»Aber ich bin noch mit Adena verabredet«, fügte ich hinzu. »Picu hat gestern drei Welpen geworfen, die will sie mir zeigen.«
Adena war meine beste Freundin, die Tochter unserer Nachbarn Charlie und Nellie White Elk. Ihr Trailer stand zweihundert Meter hinter unserem, noch ein ganzes Stück den Hügel hinauf. Und Picu war Adenas Mischlingshündin. Sie hatte groÃe Ãhnlichkeit mit einem Kojoten, und ich war sehr neugierig, wie ihre neugeborenen Welpen aussahen.
Aber mein Vater lächelte, und als er seinen Hut in den Nacken schob, sah ich ein Leuchten in seinen schwarzen Augen. »Ich weià ja, dass du deine Tante und Marlin nicht besonders magst, Talitha. Aber Charlene hat einen neuen Nachbarn. Er züchtet Appaloosapferde. Ich habe sie gestern Abend gesehen. Ich glaube, ein neugeborenes Fohlen ist auch dabei. Vielleicht macht es dir ja Freude, die Pferde zu zeichnen.«
Das war natürlich etwas vollkommen anderes! Auf jeden Fall wollte
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