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Die seidene Madonna - Roman

Die seidene Madonna - Roman

Titel: Die seidene Madonna - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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    Seit Jacquous Abreise verging die Zeit für Alix wie im Flug. Vor lauter Arbeit wusste sie kaum noch, wo ihr der Kopf stand. Maître Jacques Cassex und seine Frau waren nämlich dabei, sich unter den Teppichwebern von Tours einen Namen zu machen, während Pierre de Coëtivy dieser Stadt anscheinend für immer den Rücken gekehrt hatte.
    In den Werkstätten mussten sie ihr Arbeitstempo steigern, um die Jagd auf das Einhorn zum verabredeten Termin fertigzustellen. Außerdem hatte der Vogt von Chartres, als er anlässlich des großen Jahrmarkts in Tours ihr einen Besuch abstattete, mehrere Wandteppiche bestellt, die der Künstler Van Orley malen sollte, der sich gerade in Tours aufhielt.
    Der Maler und Jacquou waren an einem Wintermorgen im Gefolge des Königs aufgebrochen, zuversichtlich und in Freundschaft, die während der langen Reise immer enger wurde. Seither hatte Alix die Leitung der Werkstätten mit dem Mut und der Tatkraft übernommen, die man von ihr kannte.
    Nachdem die Jagd auf das Einhorn an Seigneur de La Tournelle ausgeliefert worden war, konnte sie jetzt mit dem Auftrag für den Vogt von Chartres beginnen.
    Ein kalter, trockener Winter kündigte sich an. Sobald Alix frühmorgens die Werkstätten öffnete, wurden Kerzen und Fackeln um die Webstühle herum angezündet. Manchmal mussten die Weber allergrößtes Geschick beweisen, damit die Schatten, die ständig um die Lichtquellen flackerten, sie nicht bei der Arbeit störten.

    Arnold und seine Frau waren beide Meister und konnten auch unter schwierigsten Bedingungen arbeiten, aber Mathias und Florine hatten noch viel zu lernen. Weder Hitze noch Kälte, weder Dunkelheit noch Müdigkeit durften sie entmutigen, wenn sie eines Tages zu den großen Webern gehören wollten, wie es der Plan von Mathias vorsah.
    Langsam wurde es hell, und ein kalter weißer Sonnenstrahl strich über das große Glasfenster. In den Werkstätten wurde wie üblich auf Hochtouren gearbeitet.
    Weil es so bitterkalt war, hatte Arnaude ihren kleinen Sohn Guillemin bei einer Nachbarin gelassen, die ausnahmsweise bis zum Abend auf ihn aufpassen wollte. Das kam allerdings nur selten vor, obwohl sie es sich jetzt ab und zu leisten konnten, weil Arnold nicht mehr allein verdiente.
    Die Glocken von Saint-Pierre schlugen zehn Uhr, bald gefolgt von den zehn Schlägen der Kathedrale, und Florine, deren Bauch allmählich immer runder wurde, knurrte laut der Magen. So ging das nun jeden Mittag. Dann machte sie eine kurze Pause und wickelte ihre bescheidene Mahlzeit aus einem rotkarierten Geschirrtuch. Mit großem Appetit biss sie in ein Stück Brot mit geräuchertem Speck und verspeiste einige Weizenküchlein zusammen mit einem Apfel oder etwas Quittengelee.
    So gesättigt, legte sie die Hände auf ihren Bauch, lächelte bei dem Gedanken an das Kind, das sie in ein paar Monaten zur Welt bringen würde, und machte sich wieder an ihre Arbeit.
    Florine war ganz ruhig, heiter und entspannt, und Alix hätte nur zu gern selbst auch ein wenig von diesem Glück genossen, das ihr die Mutterfreuden bereiteten. Doch das Schicksal hatte es anders mit ihr gemeint. Also seufzte sie nur, betrachtete noch einen Moment Florines ruhige Miene und vertiefte sich dann
wieder ganz in ihre Arbeit. Schließlich brauchte die Werkstatt jetzt auch viel mehr ihre fleißigen Hände als das Geschrei eines Neugeborenen.
    Auf den Metallrahmen, an dem Alix arbeitete, war die Zeichnung von Van Orley gespannt, eine typisch weltliche Szene: In der Mitte sah man ein Tier, halb Drache, halb Löwe, und darum herum eine üppige Vegetation aus Lianen und exotischen Pflanzen mit wilden Vögeln mit geschwungenen Federn und krummen Schnäbeln und kleinen halbnackten Gestalten, die sich ausgelassen haschten und Verstecken spielten.
    Viele Kartonmaler jener Zeit ließen sich für ihre profanen Themen, wenn sie sich nicht an den herrschaftlichen Szenerien orientierten, von den Gemälden von Hieronymus Bosch inspirieren. Der flämische Maler war vor allem mit seinem Garten der Lüste berühmt geworden. Dieses Bild zeigte das Leben aus manichäischer Sicht und stand so im Gegensatz zu den Grundsätzen der berühmten Apokalypse , weshalb Bosch auch eher die weltlich Gesinnten als die Frommen ansprach.
    Als Alix sah, dass das große Fenster von einer dicken Eisschicht überzogen war, fröstelte sie. Die ersten Januartage waren wohl wirklich die Vorboten einer langen Kälteperiode.
    »Es hat gefroren«, sagte sie zu den anderen. »Wir müssen

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