Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
Zeichnungen der Kinder entschieden, die sie an die schräge Wand pappte und so dem aufdringlichen Orange die Spitze nahm. Drei Monate war sie nun nicht in ihrem Arbeitszimmer gewesen, die Heizperiode hatte schon begonnen, bestimmt hatte Matthes die Heizungen zugedreht, und es war kalt dort oben. Je mehr sie in Gedanken in ihrem Zimmer herumwirtschaftet, desto fahriger geht ihre Hand auf und ab, in ihrem Gesicht, ihrer Kleidung, bis zu den Füßen sogar, und sie spürt rechts den Impuls, es der linken gleichzutun. Woher diese Unruhe? Woher diese flatterige, auf was auch immer gerichtete Ungeduld?
05.05.2002 22:47
Mein allerliebstes heruntergekommenes
Heringsfang-Helenelein,
trotzdem: Du bist es. Wenn ich mir vorstelle, morgen nicht mehr leben zu sollen, so überkommt mich ein seltsam süßes, beinahe verzücktes Gefühl, dass es Dich gibt, dass Du da bist und dass ich nichts mit Dir zu tun haben muss, um beseligt zu sein. Das ist neu, und es beruhigt ungemein. So ruhig war ich beim Malern noch nie. Noch nie war es aber auch so einfach, mit den Folgen klarzukommen: Heute früh habe ich einfach Folien und Papiere abgenommen, und alles war wie geleckt, ganz sauber! Beim letzten Mal hatte ich einen halben Tag dranhängen müssen, um mit den Kleckereien klarzukommen, die Wandfarbe war natürlich längst angetrocknet, und das Fenster hatte ich sogar mit einem Cerankochfeld-Schaber bearbeiten müssen, um es sauber zu kriegen. Heute nun habe ich das Fenster nur geputzt, mit Essigwasser und Zeitung, und kämest Du hier herein, würdest Du wahrscheinlich, geblendet vom einfallenden Licht, ein Stück zurücktaumeln. Ich würde Dich festhalten, damit Du nicht fällst. Das wollte ich schon immer tun, seit ich Dich das erste Mal sah. Wir würden uns in das schöne terrakottafarbene Wohnzimmer setzen, die Schränke habe ich alle mit Möbelpolitur bearbeitet, Schrauben festgezogen, wo sie locker saßen, den Teppich in die Reinigung gebracht. Wir würden uns also setzen, und solltest Du etwas zu sagen haben, wäre es schön. Solltest Du nichts zu sagen haben, wäre es genauso schön. Die neue, ungewohnte Ordnung in meinem Zimmer gibt mir irgendwie Halt, mal sehen, wie lange das anhält. Noch räume ich penibel alle verräterischen Spuren meines Tuns und Lassens beiseite. Keine Orangenschalen, keine Bierflaschendeckel. Sogar die Zeitungen kommen in einen Karton, den ich in Collagemanier beklebt habe, links unter meinem Computertisch. Nun haben wir zwar erst Tag 1 nach der Renovierung, will sagen, eigentlich bin ich erst seit knapp einer Stunde mit dem Ein- und Aufräumen fertig (der Schwarze war wieder da, und ich weiß jetzt, wie er heißt!), aber ich merke, dass ich mich an der Ordnung in diesem Raum festhalte wie an einem Krückstock, den ich mir selbst geschnitzt habe. Noch ist er vielleicht gar nicht fertig, denn das, was in der einzigen Vitrine steht und Nippes genannt wird von meiner Mutter, bringt mich ganz durcheinander. Vermutlich muss ich die Vasen und Tässchen und Schächtelchen und Statuetten rausschmeißen, sie fühlen sich alle zusammen wie ein Fremdkörper an. Im Moment koste ich dieses Gefühl noch aus, es ist mir völlig neu, mich den geordneten Dingen in meinem Zimmer unterzumischen und etwas zu haben, was dem so gänzlich entgegensteht. Man sieht viel besser, wie die anderen Dinge und man selbst zueinanderpassen, wenn da etwas ist, was die Eintracht stört. Du aber bist in Gedanken immer auch hier, ich sehe Dich nicht nur, wenn ich die Augen schließe, Du passt so gut in diesen neu gewonnenen Raum, dass Du gar nicht herkommen musst, um das zu beweisen. Ich bin dabei, mich mit Dir ohne Dich einzurichten, ich danke Dir für die Ordnung, die Du meinem Leben gegeben hast.
Deine merschwütig mobile Mitwissermaljutka
Helene sieht sich um in ihrem neutral und sachlich eingerichteten Zimmer. Die Wände und der Teppichboden mintgrün, die Stühle bordeauxfarben gebeizt, mit grünem Polster, Schränke, Bett und Tisch beigefarben gestrichen. Bislang hatte sie das alles nur einzeln sehen können, hatte keinen Blick für die Summe der Gegenstände übriggehabt. Auf einmal fühlt sie sich selbst wie der Fremdkörper in dieser rechtschaffen geradlinigen Anordnung, wie der Nippes in Maljutkas beschriebenem Terrakotta-Zimmer. Sie ist ungekämmt, trägt ausgebeulte Jogginghosen und einen hässlichen grünen Pulli mit rotem Aufdruck, die Hausschuhe haben schon bessere Zeiten gesehen, und eigentlich könnte ihr mal jemand
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