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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Schmidt
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Saaleingang gehen, am Tisch vorbei, an dem sie früher gesessen hatte, und dann auf die rechte Seite wechseln, zum Club der alten Männer. Den Umweg nimmt sie gerne in Kauf. Sie überlegt, Wojziech anzusprechen. Wenn sie es aber bislang nie getan hatte, so wäre das Prozessgeschehen auch kein guter Anlass, Kontakt aufzunehmen.
Eine geschlagene Stunde hat sie nun hier gehockt und mit rotem Kopf Zeitung gelesen, sie hat gar keinen Appetit mehr. Das Abendessen neigt sich ohnehin dem Ende entgegen. Stattdessen überkommt sie Heißhunger auf Schokolade, der Serotoninspiegel ist zu niedrig im Gehirn, muss sie denken, es ist Abend, es wird schon früher dunkel, das Hirn braucht Licht und Tryptophan, um Serotonin herzustellen. Irgendwo hatte sie das mal gelesen, komisch, dass sie es behalten hat. Sie knipst also das Zimmerlicht an, nicht nur das Leselämpchen, und wühlt im Schrank – Matthes hatte ihr gestern ihre Lieblingsschokolade, Vollmilch mit Rosinen und Nüssen, mitgegeben. (Sie ist doch tatsächlich versucht, das Tryptophan herausschmecken zu wollen, das in der Schokolade enthalten sein soll.) Schonend und liebevoll will sie es behandeln, ihr Hirn, ihm alles geben, was sie kann, um es wieder aufzuräumen, und als die Schokolade aufgegessen ist, die ganze große Tafel, sitzt sie am Fenster und wartet auf das Glück. Es kommt tatsächlich, als plötzliche Erleuchtung: … dass nicht mal die Enten nicht näher herankommen wollen – das ist doch Quatsch! Das hat die Frau doch ganz falsch gesagt! Das hieße doch, dass die Enten eigentlich einen Drängelschub in Richtung Kind unternommen hätten, sie waren aber weit weg geblieben!
Merkst du denn nicht, dass nicht mal die Enten näher herankommen wollen?
Ja, so wird ein Schuh draus.
Was Schokolade so alles kann …

IV
   
DU. UND DU.

EIGENTLICH IST ES GUT , in Ruhe gelassen zu werden vom Personal. Es macht nichts, dass es zu wenig davon gibt. Heute hat sich seit dem Nachmittag niemand mehr bei ihr blicken lassen. In der Teeküche hat sie sich aber nach der Schokolade eine große Kanne Rooibostee gekocht und ihren Nachbarn gebeten, sie in ihr Zimmer zu tragen. Er machte Anstalten, ein Weilchen bleiben zu wollen, und sie hatte dem Wunsch nachgegeben, innerlich murrend. Als er zum Glück wieder weg war, hatte sie nicht viel gesagt. Letztlich hat sie nun schon einige Übung darin, mit ihrem drückenden Schweigen andere zu vertreiben, was ihr, zugegeben, gefällt.
Als sie das Schubfach des Nachtschrankes öffnet, nimmt sie Maljutkas Muranoglasspange heraus, darunter liegt die Diskette. Am liebsten würde sie die Spange in den Laptop einschieben … Aber was soll das!, ruft sie sich zu, aber das muss ich doch wollen sollen! Hier hat sie doch die Chance, mitten hineinzutauchen in die Maljutka-See, sich zu aalen im warmen Viola-Wasser! Was hält sie ab? Erschrocken schiebt sie die Lade zu, als hätte sich die Diskette bewegt, wäre auf sie zugekommen mit scharfem Zischen, hat sie nicht eben ein scharfes Zischen gehört?
Verharren. Umschau. Verharren.
Lade wieder auf, langsam, die Diskette liegt unverändert. Keine Erleichterung, seltsam. Sie nimmt mit rascher, nun entschlossener Bewegung das Ding in die linke Hand, der Laptop wartet, verschluckt es schnappend. Sie staunt. Nur drei Mails, dabei hatte sie doch gedacht, ein ganzes Archiv angelegt zu haben! Dass Matthes damit zu tun hat, ist ausgeschlossen, sie selbst muss entweder ausgewählt und gelöscht haben, oder ihr ist ein Fehler passiert. Mails, die sie geschrieben hatte, finden sich überhaupt nicht, lediglich drei von Maljutka …
04.05.2002      01:43
Mein allerliebstes heliotropes Herzbeutel-Helenelein,
trotzdem: Du bist es. Deine Stunden sind auch meine Stunden, die Distanz beträgt etwa 50 Kilometer, vielleicht 170 Lichtmillisekunden, was ist das schon zwischen Deinem und meinem Leben. Kosmisch gesehen, wohnen wir exakt am gleichen Ort, wir brauchen uns nur mal auf den Mars zu stellen. Überhaupt ist es mir immer wieder tröstlich, die kosmische Perspektive einzunehmen, in der meine Existenz zur Nichtigkeit schrumpft. Ist doch schön, wenn der Schmerz nachlässt, hat meine olle Mutter immer gesagt. Recht hatte sie.
Ich malere meine Wohnung, habe es so beschlossen. Gestern habe ich mit dem Wohnzimmer angefangen. Das Rausräumen der Bücher und der riesigen Computeranlage hat mir den halben Tag weggefressen, das Sofa und die Sessel habe ich mithilfe des Schwarzen, der seit drei Wochen in unserem Haus wohnt,

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