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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Schmidt
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Alkoholentzugsstation. Wenige Male hatte sie die von innen gesehen. Damals arbeitete sie ehrenamtlich als Betreuerin einer jungen Frau aus der Nachbarschaft. Deren beide Kinder hatte man im Heim untergebracht, weil sie trank. Eine intelligente Chemielaborantin mit Abitur. Bestimmt hatte sie schon zehn Jahre lang nicht mehr an sie gedacht. Ob sie die Frau wiedererkennen würde, wenn sie ihr begegnete? Als sie sich zu erinnern versucht, sieht sie ein verlebtes, ledriges Gesicht, das unaufhörlich alterte. Mit Anfang zwanzig! Irgendwie hatte Helene sie zum Entzug zwingen wollen, obwohl sie gewusst hatte, dass das nicht funktionierte. Ein paar Tage lang hatte sie das Mädchen mit dem alten Gesicht täglich auf Station besucht, dann war es abgehauen. Heute steht der Klotz da drüben leer. Ein Typenbau für Kinder- und Pflegeheime, vorwendlich. Solche Gebäude verteilen sich über den Ostteil der Stadt, viele leer gezogen. In Marzahn diente eines als Kinderheim. Gerhard fällt ihr ein, der 1989 bis 91 einen Film drehte, mit dem er aus diesem Heim entlassene Volljährige über zwei Jahre begleitete. Die Mädchen waren früh Mutter geworden, die Jungen früh Väter. Einige hatten der Kriminalität nicht entkommen können. Es war kein niederdrückender Film geworden, sondern einer, der auf klare Weise aufräumte mit Illusionen. Man hatte keine mehr, wenn man ihn gesehen hatte. Das war angenehm gewesen.
Gerhard wohnt in der Nähe! Ihr ist nicht ganz klar, wie sie Bordsteinkanten nehmen könnte mit dem Rollstuhl. Außerdem sollte sie ihn anrufen vorher, sonst muss sie sich womöglich sofort auf den Rückweg machen, wenn er nicht da ist.
Schade, kein Telefonverzeichnis.

Geschafft. Ist sie. Hat sie. Hat geschafft, den Nachmittag allein im Freien zu verbringen. Was ihr alles eingefallen ist! Überreizt schließt Helene die Augen, aber die hitzigen Bilder bleiben, wechseln in schneller Folge. Immer wieder Matthes, mit seinem Heutegesicht in alte Zeiten montiert, dabei hat er damals anders ausgesehen.
Sie auch.
Die Ergotherapeutin kommt, zur Abendhygiene. Ihre Hände sind heute beide schlaff, auch die linke, die den Rollstuhl bewegt hat. Carola fährt sie ins Bad, sie zieht sich mit ihrer Hilfe aus. Eigentlich zieht Carola sie aus, sie muss es zugeben. Auf einer Duschliege schiebt sie sie unter den warmen Wasserstrahl. Sie kann aus dem Fenster sehen, während sie langsam, mit unerschütterlicher Ruhe, gewaschen wird. Matthes hat ein duftendes, teuer aussehendes Duschbad mitgegeben. Sie sieht nicht mehr aus dem Fenster, sondern schließt wieder die Augen. Stellt sich vor, Matthes wüsche sie. Wenn er sie früher wusch, wusch sie ihn auch, bis sie unter der Dusche noch ineinandergerieten.
Lange her.
Sie wird rot, als sie die Augen öffnet. Zum Glück keine Regung.
Als sie zurückgefahren wird und vom Rollstuhl ins Bett befördert werden soll, ist ihr, als könne sie sekundenlang stehen.

Matthes’ Schwester Jutka kommt. Helene fängt sofort an zu weinen. Irgendwie ist sie erleichtert, dass sie jetzt weinen kann. Skeptisch wandert sie ihre Gefühle ab. Eigentlich ist sie überhaupt nicht traurig. Was also sollen die Tränen? Sie kann aber auch nicht aufhören zu weinen. Legt ein Lachen darunter. Unten lacht der Mund, oben laufen die Tränen. Was tut die Stimme? Hält sich zurück. Jutka grinst.
Helene erinnert sich: Vor ein paar Jahren hat Jutka ihr erzählt, dass sie und Matthes grinsen mussten, als Oma Hilda begraben wurde. Mit kichernden Gesichtern wären sie, der Zehn- und die Siebenjährige, an den Händen ihrer Eltern zur Kapelle gelaufen, hätten zwischen ihnen Platz genommen und sich sehr geärgert über sich selbst, dann natürlich sei ihnen zum Heulen zumute gewesen, aber sie mussten eben grinsen, was das Fassungsvermögen der Eltern überstieg.
Helene ist nicht tot, sonst könnte sie Jutkas Grinsen nicht sehen. Oder?

Hochwasser.
Hohes Wasser.
Sie versteht nicht gleich, was damit gemeint ist, als der Nachrichtensprecher der Tagesschau, die im Gemeinschaftsraum gerade noch erlaubt ist, weil die »guten« Filme erst Viertel nach acht beginnen, davon spricht. Die nachfolgenden Bildberichte machen es klar. Sie zeigen ein überflutetes Dresden, Wasser in Semperoper und Zwinger. Auch Tharandt und Freital sind heillos überschwemmt. Zwei Talsperren sind übergelaufen, Malter und Klingenberg. Man bringt riskante Frühgeburten bis nach Berlin, weil man nicht weiß, ob Dresdener Kliniken evakuiert werden müssen. Strom und Telefon

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