Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
Gefühl, das ihr den Zeitpunkt nahebringt, zu dem der Text entstanden war. Kann ein Gefühl so etwas überhaupt? Wie auf dem Wasser schwankt das, was sie denkt, sie kann es kaum halten und greift nach der Reling: Pietro hatte seinen Geburtstag am sechsten Juni in seinem Häuschen bei Anklam gefeiert, und am Tag darauf waren sie hinübergefahren nach Usedom, Lottchen im Schlepptau. Irgendwie hatte Qual in der Luft gelegen, selbst die Erinnerung daran ist eine Qual. Wo sie sich zu zweit bewegten, hatte sie immer gute Miene gemacht, um nicht unbedacht einzureißen, was Matthes mühsam aufgebaut hatte. Als er sich endlich ein Stück von ihr entfernte, um ins Wasser zu gehen, war es zusammengefallen.
Ihr Lächeln.
Sie hat sehr fest geschlafen. Als gegen vier Uhr die Schwesternschülerin kam, um Puls und Temperatur zu messen, war sie abweisend. Verärgert über die Störung. Das Mädchen hat es nicht gemerkt.
Jetzt liegt sie und denkt.
Was ist Denken?
Denken müsste doch so etwas wie Fortbewegung im Stillen sein, an einer langen Halteleine, sodass man sicher durch die Wildnis der Wahrnehmung kommt. Indem man hin und wieder auf die Halteleine schaut, schirmt man sich ab vor zu vielen Eindrücken. Das Denken verwurstelt sich dann nicht so leicht.
Wo ist ihre Halteleine?
Sie kann sie nicht sehen. Stattdessen flieht ein Gedanke den nächsten, der links von ihr als Häscher auftritt, ehe er rechts als Gejagter die Bildfläche verlässt. Ohne Spuren zu hinterlassen.
Woran denkt sie also?
Daran, dass sie zu denken versucht.
Denke nie gedacht zu haben, denn das Denken der Gedanken ist gedankenloses Denken. Wenn du denkst, du denkst, denkst du, dass du denkst, doch denken tust du nie.
Diesen Spruch hatte ihr Vater immer auf den Lippen, sie hat ihn seit der Kindheit parat, auch jetzt verließ er sie also nicht.
Ich habe den Schlüssel zum Garten, in dem drei Mädchen warten. Die erste heißt Binka, die zweite heißt Bibeldebinka, die dritte heißt Zwicknicknacknobeldebobeldebibeldebinka.
Die Vatersprüche mehren sich offenbar. Da ist schon der nächste:
Seht unsern Hausmeister, Maus heißt er! Unterm Dach meist haust er, wie es heißt, maust er.
Und ehe sie will, kommt ihr noch einer in den – Sinn?:
Die Boxer aus der Meisterklasse zerschlugen sich zu Kleistermasse. Doch aus dem ganzen Massenkleister erhob sich dann der Klassenmeister!
Ja, sie müssen Helene in den Sinn gekommen sein. In den Sinn kommt doch aber nur, was die Sinne anspricht. Aus den Augen, aus dem Sinn!, hatte ihre Urgroßmutter immer gesagt, egal, ob sie nun etwas verloren hatte, was sich nicht wieder anfand, oder ob sie ihren Bruder Walther meinte, der so selten auf ihre langen Briefe antwortete. Im Sütterlin waren die abgefasst. Helene sollte sich ein Sütterlin-Buch mitbringen lassen und nachschauen, ob sie das noch lesen kann. Früher konnte sie in Sütterlin schreiben, hat das aber schon lange nicht mehr probiert. Aber – sie kann ja überhaupt nicht schreiben, wenn sie einen Stift in die rechte Hand nimmt! Weder Latein noch Sütterlin … Mit links müsste sie es probieren. Sie wird ja hier und da weiterhin eine Unterschrift leisten müssen. Die wird anders aussehen als bislang: Das H hatte sie einfach schwungvoll in einen linken und einen rechten Bogen zerlegt, E und L und E als drei unterschiedlich große Exemplare desselben Wesens nebeneinandergesetzt und dann N und E zu einer Linie zerwaschen. Das W des Nachnamens hat sie groß und deutlich geschrieben, die anderen Buchstaben bis auf das Abschluß-L nur als Strich gezeichnet. Wann hatte sie sich das angewöhnt? Die Zeit nach der Hochzeit fällt ihr ein, sie sieht sich am Sekretär in der damaligen Wohnung sitzen und üben. Es dauerte, bis sie »Wesendahl« angenommen hatte für sich. »Das Wesen Dahl« pflegte sie ihr damaliger Chef zu nennen, nicht ohne süffisant zu betonen, dass er ihre Heirat für nicht maßgeblich und sie unter der Hand auch weiterhin für ein passendes Objekt seiner Begierde hielt. Sie sieht sein Gesicht vor sich: Anfang 40 , recht lange Koteletten, obwohl das Anfang der 80 er-Jahre gar nicht mehr modern war, beginnende Halbglatze. Immer im weißen Arztkittel, in dem er sogar frühmorgens aus dem Auto stieg. Seine Frau war Schwester in der Inneren und fuhr ein eigenes Auto. Für ostdeutsche Verhältnisse sehr ungewöhnlich. Sie war krankhaft eifersüchtig, machte ihm Szenen, die nur jene verstanden, die mit ihm arbeiteten: Ihre Art, ihn wutblitzend und schweigend anzustarren,
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