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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Schmidt
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schließen, um diesen Moment zu dehnen, in dem du nicht existierst, einfach weg bist vom Fenster, das sich nicht öffnet, dabei wäre es schön, eine Aussicht zu haben, in jeder fremden Stadt ist es immer die Aussicht, die ich suche, wenn ich im Hotel die Gardinen beiseiteziehe und hinausschaue, am liebsten sind mir weite Stadtrandsichten über Siedlungshäuser und Felder hinweg zum entfernten Horizont, dessen Oberlippe die Unterlippe presst, ich merke dann meist, dass auch meine Lippen sich aufeinandergepresst haben, und wenn ich nicht aufpasse, rollen Tränen an gegen die Sicht, die ich suchte, auf dass sie mir wieder versperrt wird, warum kann ich nicht weinen, wenn du in der Nähe bist?, du würdest endlich merken, dass mein Lächeln nicht stimmt und nicht das fröhliche Blau der Iris, du würdest sehen, dass das fröhliche Blau längst ertrunken ist, aber wenn ich nicht weine, wirst du es womöglich niemals merken, und das Einzige, was ich tun könnte, wäre dann, nichts mehr zu essen, bis ich ganz verschwunden bin, einfach aufhören zu essen bedeutet ja auch, auf den Stoffwechsel mit der Welt langsam, aber sicher zu verzichten, den ich nicht mehr betreiben will, wenn ich den Stoffwechsel mit dir schon so lange nicht mehr fühlen kann, dass mein Haar darüber grau geworden ist, während deines seine Farbe behielt, die Farbe von flüssigem Waldhonig, nach dem es mir früher sogar zu schmecken schien, wenn seine Wellen meinen Mund streiften, was manchmal passierte, wenn ich dir ein Kind reichte und du schnell den Kopf wandtest, weil ein anderes Kind nach dir rief und das dritte womöglich gerade hingefallen war, auf der Treppe saß und heulte, dein schönes, langes Haar wogte an meiner Lippe vorbei, elektrisierte mich, ich hatte dann Mühe, mich möglichst schnell wiederzufinden zwischen den Kindern, die darauf warteten, mit dir und mit mir wegzufahren, zu spielen oder zu essen, sie hatten einander die Staffelstäbe schnell übergeben, kamen und gingen, längst sind sie fortgezogen, wissen gar nicht, dass wir hier oben am Meer sind, für eine Sommerwoche, sehen dich nicht, den alt gewordenen Vater, dessen Knöchel von bläulich-roten Besenreisern schimmern, während die Krampfadern meine Waden erdrosseln, ich wippe dagegen an, wo ich gehe und stehe, Ballen hoch, Ferse ab, Ferse hoch, Ballen ab, siehst du, ein stetiges Wippen ist meine Existenz, selbst hier am Strand hebe und senke ich unablässig die Füße, die weglaufen wollen, mich aber nicht zu tragen vermögen in eine Richtung, die ich dir nicht mitgeteilt habe, die dir ganz fremd ist und in die du nicht schauen kannst, weil du nur mich siehst, immer nur mich, dabei fühle ich mich in deinem Blick wie im Schussfeld, stets in Erwartung feiner, hakenbewehrter Pfeile, die du nie abschießt, denn du bist ja ein guter: Mann, Kamerad, Liebhaber, der niemals etwas tun würde, was schadet, mir und dir und der großen Welt jenseits der Zeitung, die du jeden Morgen liest, wie du auch mich zu lesen vermeinst und nicht merkst, dass ich nicht in deinen Augen zu Haus bin, eher würde ich sagen, wie du in mich hineinliest, so schallt es heraus, aber du willst es nicht hören, greifst stattdessen meinen Kopf mit deinen Händen und nagelst das Lächeln fest, betrachtest zufrieden dein Werk, ehe du Holz hacken gehst oder umgraben oder schwimmen, warum ahnst du nur nicht, was uns blüht, was uns aufgeht, wenn wir einander nicht aus dem Weg treten, der da, wo wir jetzt stehen, längst zu schmal ist für zwei, und da, wo wir morgen stehen werden, vielleicht ganz an sein Ende kommt, und jetzt, wo du so weit draußen bist, dass ich dich beinahe nicht mehr sehen muss, nehme ich beide Hände an die Wangenknochen und reiße die Stifte heraus, dass es zusammenfällt: mein Lächeln, mit ihm stürzt nur ein Weltchen ein, ein kleiner Kosmos, in dessen Zentrum ich eben noch saß und aus dem ich nun aufstehe, mich wundere, wie still sich die Koordinaten ein wenig schräger stellen, nicht mehr im rechten Winkel zueinander, sondern im abgestumpften Verhältnis geben sie mir den Halt, den ich brauche, dir nicht zur Last zu fallen nachher, wenn du an Land kommen wirst, während ich auf und ab trippeln, wippen und dir nicht erklären werde, was gerade passiert ist.
Hat sie das geschrieben? Natürlich. Wenn Matthes sie fragte, was sie da eben gelesen hätte – sie könnte es nicht sagen. Bestimmt ist es gut, nichts über Aphasien lesen zu müssen, denkt sie plötzlich. Dann aber kommt ein

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