Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
gemeinsamen Zimmer war neunzig Zentimeter breit. Sie sehnten sich nach den Nächten, in denen sie vergessen konnten, was tagsüber geschah. Matthes fuhr in die Mitte Berlins zur Arbeit als Kalkulator in einem Heizkraftwerk, ein Job, der seiner Ausbildung kaum entsprach, den er aber nach dem Wegzug von seiner Frau einfach hatte annehmen müssen. Drei Kilometer Fahrrad, sechs Kilometer Vorort-Straßenbahn, dreißig Kilometer S-Bahn, zwei Kilometer Bus. Bis zu zwei Stunden brauchte er für eine Tour. Sie dagegen brachte um sechs Bengt in den Kindergarten, drei Fahrradkilometer weiter Billy zur Tagesmutter, fuhr sechs Kilometer mit der Vorort-Straßenbahn und zwanzig mit der S-Bahn, ehe sie die letzten vier eine andere, innerstädtische Tram nutzte und so ihre Berliner Klinik erreichte, in der sie ein sechsmonatiges Praktikum zu absolvieren hatte, um der Arbeit in der neurologisch-psychiatrischen Kinderabteilung des Krankenhauses Henrichshorst gewachsen zu sein. Bleiben konnte sie dort nur bis 14 Uhr, denn 16 Uhr schloss die Tagesmutter ihre Pflegestelle. Die Berliner Klinik meldete das nach Henrichshorst, und sie bekam nur noch einen Bruchteil ihres Gehaltes, das eigentlich in voller Höhe für die Dauer des Praktikums vereinbart worden war. Ihnen war kalt geworden. Immer Punkt neunzehn Uhr hatte sie die beiden Jungen bettfertig auf der Liegenkante sitzen, versuchte dann, Bengt noch etwas vorzulesen, während sie Billy im Arm wiegte. Meist schlief sie in jenem Moment ein, da Matthes nach seinem langen Tag über die nicht vorhandene Schwelle im Wohnheim trat. Staffelstabübergabe. Er brachte die beiden ins andere Zimmer und legte sich zu ihr, sie lagen beide auf der Seite, ihr Hintern in seiner Schoßbeuge, damit die Liege Platz hatte für sie.
An einem Wochenende, das für so etwas wie Erholung nicht ausreichte, bastelten sie. Ihre Gesichter montierten sie in einen Demonstrationszug chinesischer Arbeiter. Chinas Bevölkerung überschritt gerade die Milliardengrenze. Sie teilten mit, dort habe man ihnen eine Wohnung in Aussicht gestellt, weswegen sie ihre Ausreise nach China forcieren wollten. Falls aufgrund politischer Interessen ihr Weggang nach China nicht genehm sei, schrieben sie, würden sie nach Kasachstan ziehen. Dagegen konnte ja nun wahrlich niemand etwas haben, denn Kasachstan war eine Unionsrepublik innerhalb des großen Sowjetreiches. Fünfzehn davon gab es, sie machten sie zu fünfzehn Fingern an drei Händen, mit denen die Sowjetunion sie angeblich lockte. Die Wandzeitung hing keine halbe Stunde.
Dafür kam zwei Tage später eine Nachricht von Matthes’ Betrieb, dass man bereit wäre, ihnen eine Wohnung zu geben, falls sie heirateten.
Nie hatte sie heiraten wollen.
Kaum war Matthes’ Scheidung durch, heirateten sie.
Im Karlshorster Schlafzimmer steht ein Bett von zwei Meter Breite.
Darüber wölbt sich ein naives Himmelchen mit Sternen.
Als sie aus der Kirche rollt, sieht sie Pfarrer Wittusch. Er kommt die Allee entlang, langsam, zu Fuß. Seine Ärmel flattern wie Fledermausflügel. Scheint nachzudenken? Erkennt sie nicht, natürlich. Woher kennt sie ihn? Ach ja: Gleich nachdem sie ihre erste Wohnung bezogen hatten, ein Dreivierteljahr nach der Hochzeit, Lissy war schon sechs Monate alt, besuchte er sie. Er war auf der Suche nach Kirchenmitgliedern, die sich in den eben aus dem Boden gestampften Plattenbauten hatten ansiedeln lassen. Sie luden ihn zu Tee und Gespräch, das war viel damals für einen wie ihn, der an der Mehrzahl der Türen abgewiesen wurde. Ihr fiel ein, dass sie getauft worden war, weil ihre christlichen Großeltern damals noch lebten und nicht vor den Kopf gestoßen werden durften. Diese Tatsache floss wie ein stilles Band um Wittusch und sie, während Matthes seinen atheistischen Zuschnitt deutlich herausstrich. Trotzdem hatten sich die Männer etwas zu sagen, glaubt sie sich zu erinnern. Sie sieht Wittusch lachend am Tisch in der Diele sitzen. Als er ging, war er froh, an diesem Tag doch noch irgendwo eingelassen worden zu sein.
Gott …
… hörst du mich?
O Gott, was ist aus der Alkoholikerabteilung geworden … Das Haus steht leer und schweiget, und aus den Fenstern steiget die weiße Birke, wunderbar, variiert Helenes Aphasie den alten Claudius. Unwillkürlich verzieht sich der Mund zu verlegenem Lächeln, das sie niemandem erklären kann. Es ist nämlich niemand da, es zu sehen.
Sie steht auf der langen Betonpiste zum Nebenparkplatz und schaut über die Wiese zur alten
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