Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
abrollte, zeigte er sich. Zwei oder drei solcher Tage hatte sie schon, seit sie hier ist, sie weiß nicht, ob es sie davor auch gab. Nichts Greifbares zwischen die Synapsen, denkt sie und wundert sich, dass sie das denkt, wo sie doch eben noch bemerkt zu haben glaubte, nichts denken zu können. Von irgendwoher kommt also diese und jene Anmutung, aber ehe sie sich zur Kopfarbeit auswachsen könnte, ist sie tatsächlich abgerollt, fort, nicht unwiederbringlich, denn manchmal kehrt sie als Andeutung zurück, umschwirrt sie flügelschlagend, ist aber in dieser bewegten Aufgeregtheit nicht zu fassen und schnell wieder fort. Nun doch unwiederbringlich, fürchtet sie, und die Frequenz ihres Herzschlages geht über die des Schrittmachers hinaus. Sie freut sich, wenn ihr Herz von alleine schneller schlägt als sechzig Mal pro Minute. Freude und Furcht halten sich für einen Moment die Waage, dann siegt Letztere, das Herzschlagen geht unter im angstvollen Durcheinander der Gedankenfluchtfetzen. Zwingen will sie sich, zu Ruhe und Sammlung. Einem einzigen Fetzchen auch nur einen Augenblick länger nachhängen dürfen! Die Zwinge versucht, die Fetzchen zu kriegen, aber das ist verlorene Liebesmüh, sie weiß es, eigentlich, mühsam schließt sie die Augen, und unter den Lidern fliegen die Augäpfel. So unruhig, dass die linke Hand herhalten muss, sich festzukrallen am Bettrahmen. Weiß sind schließlich die Fingerkuppen, sie hält und hält die Hand fest ums Gestänge geschlossen. Schließlich schwindet der Zwang, die Augäpfel fliegen zu lassen. Mählich, aber er schwindet, und als sie die Hand langsam loslässt, ist ihr, als hätte sie einen Viertausendmeterlauf hinter sich, von dem sie sich schon ein bisschen erholt hat, sodass das wohlige Zittern der Schenkel zwar noch von Anstrengung spricht, der Atem jedoch schon lang genug ist. Eine Weile liegt sie noch so, dann stellt sie das Kopfteil des Bettes fast senkrecht und greift nach der Zeitung von gestern, die Matthes mitgebracht hat. Seit dem Sturz der Taliban ist das Verbot des Mohnanbaus zur Opiumherstellung kaum mehr durchsetzbar, liest sie. Die UN-Agrarbehörde rechnet mit einer Ernte von knapp 3000 Tonnen Opium, das für 300 Tonnen Heroin reicht. Was heißt das? Hatten nicht die Taliban versucht, als radikale Islamisten den Mohnanbau zu unterbinden? Wahrscheinlich stammt das Verbot noch aus der Zeit vor dem letzten Oktober, da die USA und ihre Verbündeten ihren seltsamen Anti-Terror-Feldzug begannen. Ah ja, da steht auch, dass Mullah Omar das Verbotsedikt erließ, der Führer der Taliban, und dass er großen Erfolg damit hatte, denn im vergangenen Jahr wurden nur noch 80 Tonnen Rohopium erzeugt. Da hat die Talibanherrschaft also wenigstens etwas Gutes gehabt (sie spitzt spöttisch die Lippen) – die drastische Beschränkung des Opiumanbaus. Aber war nicht die Behauptung, dass islamistische Taliban ebenso wie al-Qaida sich aus dem Opiumgeschäft mit Geld und Waffen versorgten, einer der Vorwände für diesen Krieg gewesen? Da stimmt etwas nicht, sie spürt es deutlich, kann es aber nicht sauber formulieren. Sie erinnert sich, in einem Film gesehen zu haben, dass der Mohnanbau auf der Welt per Satellit leicht zu enttarnen ist, sich nicht verbergen lässt. Es stimmte, dass die Taliban ihn rigoros eingedämmt hatten. Was hier nicht stimmt, hat mit den Amerikanern zu tun und ihrer Behauptung, dem Opiumanbau auf die Pelle rücken zu wollen. Seit der Besetzung Afghanistans ist er wieder in vollem Gange, ohne dass die Amerikaner Anstalten machten, entschieden dagegen vorzugehen. Ein Kriegsgrund hat sich also wieder mal als vorgeschoben erwiesen. Oder? Ihre Unsicherheit nimmt ihren Anfang tief drinnen, wo sie überlegen müsste, weshalb überhaupt die Amerikaner mit Verbündeten in Afghanistan einmarschiert sind. Verlogene Begründungen – diese Floskel ist ihr präsent, sie vermag das Abstraktum aber nicht zu konkretisieren. Abgesehen von Opiumanbau, aber der war nur ein nachrangiger Kriegsgrund.
Weshalb sind die Amis, verdammt noch mal, in diesen Krieg gezogen?
Da ist es: Das Bild der einstürzenden Türme … Wann war das? Im September, vor knapp einem Jahr, ein Ereignis, das sie mitsamt seinen Folgen ununterbrochen in Atem und Aufregung gehalten hatte seither! Bis Gott auf die Pauke in ihrem Kopf eingedroschen und abgeschnitten hatte, was von außen kam …
Gehen von ihr nicht vorsichtige Triebspitzen aus? Auf einmal bemerkt sie die gläserne Kugel um sich herum. An einer
Weitere Kostenlose Bücher