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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Schmidt
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ihrem auf der anderen Seite abgestellten Auto liefen, wie sie nach einem nicht sehr flüchtig aussehenden Kuss einstiegen, und sie hatte sich, glaubt sie jetzt, gefragt, wie Matthes und sie selbst aussähen, wenn sie nach einem Besuch bei irgendwelchen Freunden deren Wohnung verließen und zu ihrem Auto schlenderten, sie küssten sich nicht, und sicher hätte sie in der Tasche nach dem Schlüssel zu kramen statt mit Matthes Händchen zu halten, sie würde die Tür aufreißen, sich auf den Fahrersitz fallen lassen und sich ungehalten wundern, wo Matthes so lange bliebe, der, wenn es dunkel war, garantiert an irgendeinem Baum stand, um zu pinkeln. Alte Ehe, denkt sie, dabei war Matthes ein Junge unter den Gleichaltrigen, noch immer unberechenbar, kapriolesk, einer, der die Erwartungen, in die er hineingeriet, frech unterwanderte und auf der anderen Seite als der erhofften plötzlich auftauchte, sein Grinsen war ansteckend, sein Lächeln nicht, aber sein vermeintliches, dem wirklichen meilenweit überlegenes Alter hat mit dem ihrer Ehe ja nichts zu tun, fast zwanzig Jahre sind sie nun offiziell aufeinander eingeschworen, ein Raunen steigt aus den Eingeweiden, und dass sie ihn im Innersten zu kennen glaubt, sein Verhalten aber auf der anderen Seite für imponderabel hält, gibt ihr plötzlich ein Rätsel auf.
Imponderabel.
Das Fremdwort kommt wie der Wille, es ad absurdum zu führen. Ganz unbedingt.

Erschöpft hat sie geschlafen, Erinnern nimmt mit (wohin?), sie wird geweckt, weil das EEG ansteht, das den zur Fahndung ausgeschriebenen Herd ans Licht bringen soll. Sie muss sich anziehen, was nicht schnell geht, die Schwester (eine unbekannte, neue) muss helfen, die Jogginghose hinaufzuziehen und den gelben Sweater über den Kopf, an Schuhe nicht zu denken auf die Schnelle, aber sie denkt daran und besteht darauf. Besteht darauf, sich das Haar zu kämmen und das Gesicht einzucremen. Unwillen aufseiten der Schwester. Als sie schließlich im Stuhl sitzt, fragt sie sich, ob der Stolz auf ihr Gedächtnis anderen befremdlich erscheinen möge, aber, fällt ihr ein: die anderen wissen ja nichts davon. Die Schwester fährt sie zum Fahrstuhl, hinunter, im Haupthaus wieder hinauf, Neurologie, gibt den Schwall Papiere ab, dessen Anhängsel sie ist. Geht, ohne sie anzusehen oder ein Wort dazu zu sagen. Blöde Kuh. Das hätte sie auch allein gekonnt. Sie sitzt und wartet. Vor ihr ein schadhafter Mann – kann man so sagen? Von der Kalotte fehlt links ein großes Stück, wie eingeschlagen sieht der Schädel aus, es pulsiert heftig unter der rosa Haut, sie spürt keinen Ekel, eher will sie ihn fragen, was ihm geschehen ist, da sieht sie, dass ihm ein Arm fehlt, und um den Kohl fett zu machen, fehlt ihm auch ein Unterschenkel, hat man ihm etwa einen Fuß ans Knie genäht? Nun wird ihr doch übel, aber der Schadhafte sieht es nicht, er dämmert, seine Augen sind nur einen Spaltbreit geöffnet, und was dahinter hervorschimmert, ist weiß. Wenn sie jene Hälfte seines Kopfes anschaut, die ganz geblieben ist, kommt sie zu dem Schluss, dass er sehr jung sein muss und gut aussehend. Gewesen.
Gepfriemelt in der Flickschusterei.
Sie schämt sich auf der Stelle. Zum Glück wird der Junge abgeholt, von einem bulligen Pfleger mit sanftem Gesicht, sie sieht sogar etwas wie Mitleid aufwallen darauf, das hat sie hier noch nie gespürt. Wie will man auf so einem Schädel die EEG-Elektroden befestigen? Wahrscheinlich hat sie es noch gut getroffen mit dem, was ihr zustieß. Es hätte härter kommen können. Immer hätte es härter kommen können, alles ist relativ, auf Rückbezüglichkeit aus, das muss ihr doch einleuchten, leuchtet es?
Es leuchtet.
Der bullige Pfleger holt nun auch sie ab. Mitleidlos. Bloß gut. Mitleid fräße sich doch ein, wie Napalm, denkt sie, selbst wenn man rennen könnte, würde man dem nicht entkommen können, wenn es sich einmal über die Haut hergemacht hat. Noch einmal sieht sie vorsichtig zu ihm auf, aber keine Spur davon zeigt sich auf seinem Gesicht. Er fährt sie in einen langen weißen Raum mit einem Fenster an der Stirnseite, das nur wenig Licht einfallen lässt. Ein Mauervorsprung in der Mitte des Zimmers macht aus dem Schlauch beinahe zwei Halbschläuche. Im hinteren, in dem sie sich aufhält, ist es nahezu dunkel. Sie sitzt. Es dauert. Es dunkelt. Draußen kommt Regen auf, schlägt dribbelnd an die Scheiben, macht, dass sie schläfrig wird, eindrieselt, wieder hochschreckt, als eine burschikose Schreckschraube ihren

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