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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Schmidt
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nicht.
Sie verlässt ihn für Minuten, um der Sonne nachzusehen, die hinter der alten Heizhausruine verschwindet. So spät ist es schon – wie war das heute mit dem Abendbrot? Sie erinnert sich nicht, sieht aber plötzlich die zurechtgemachten Schnitten, das halbe Ei mit Schnittlauch, den Apfelsaft auf dem Nachtschränkchen. Wahrscheinlich hat Carola ihr das gebracht. Wahrscheinlich wähnte Carola sie schlafend? Jetzt greift sie nach dem Ei und will es in den Mund schieben. Matthes geht dazwischen, hält ihre Hand fest, als die erste Hälfte der Hälfte in der Höhle verschwunden ist. Na gut, beißt sie eben ab. Steckt sie eben nicht die ganze Hälfte hinein, es wäre ihr ja vermutlich auch nicht gut bekommen, so anfällig, wie sie derzeit für’s Verschlucken ist. Langsames Kauen, dann fährt die Hand zurück und legt die zweite Hälfte der Hälfte wieder auf den Teller. Nein, doch nichts essen. Matthes beugt sich über sie, nimmt sie in den Arm, legt seine Wange an ihre. Verabschiedet er sich? Tatsächlich, aber auch das hat sie nicht gehört.
Sie ist’s zufrieden. Schläft ein.

Beine anheben! Beide!
Helene liegt auf der Matte. Das linke Bein kommt in den 90 -Grad-Winkel, das rechte schafft vielleicht dreißig. Nicht schlecht, denkt sie. Der rechte Arm aber, weiß sie, schafft nichts, nicht einen Finger kann sie auch nur ein kleines bisschen steuern. Da kommt auch schon das Kommando.
Arme in die Vorhalte, nach oben!
Der linke geht hoch.
Und? Was ist mit dem rechten?
Die Physiotherapeutin weiß das doch, kann sie sie nicht in Ruhe lassen damit?
Jetzt schiebt sie eine Faust unter Helenes Schulter und reizt das Schulterblatt mit den Fingerknöcheln, kaum schmerzhaft, aber deutlich spürbar. Sie führt den rechten Arm nach oben, rotiert ihn leicht nach außen. Als sie ihn gestreckt in die Höhe hält, fordert sie Helene auf, ihn in kurzen Intervallen gegen ihre ihn haltende Hand zu stemmen. Das klappt nicht, also übt sie kleinste Beuge- und Streckbewegungen des Ellbogens mit ihr. Schließlich soll sie die Hand oben behalten, so lange wie möglich!, wenn die Therapeutin losgelassen hat. Nur Sekunden, dann fällt der Arm. Immerhin. Sie beginnt, Helenes Schultergürtel zu stabilisieren, indem sie die Schulter nach vorn hält. Dieses Spielchen wiederholt sich fünfmal. Dann ist Umdrehen dran. Sie liegt auf dem Rücken. Die Therapeutin steht am Kopfende und zieht am rechten Arm, dreht ihn leicht und greift unter die rechte Schulter. Helene spürt den Impuls, das Becken zu bewegen und so das Umdrehen einzuleiten. Die ganze rechte Seite wird gedehnt, lang gezogen, gestreckt, das ist ein wohliges Gefühl, sie merkt, wie es gefehlt hat bislang. Als sie endlich auf dem Bauch liegt, will die Therapeutin auch noch, dass sie sich auf die Knie und Hände stützt. Irgendwie fehlt es am Gleichgewicht. Zwar kann sie sich vorstellen, sich mit deutlicher Bevorzugung der linken, kräftigen Seite so zu halten, aber es gelingt nicht. Die Therapeutin greift ein, doch es endet kläglich.
Tränen, nur kurz.

Der Grund für ihr Treffen mit Viola?
Sie recherchierte für einen Artikel, irgendeine Frauenzeitschrift wollte den von ihr, über Ehepaare, die sich hatten scheiden lassen und offen über ihre Beziehung zu reden bereit waren. Eine reine Geldbeschaffungsarbeit. Mit V. hatte Viola, wahrheitsgemäß, den Brief unterschrieben, den sie ihr auf die Anzeige in diversen Zeitungen geschickt hatte. Viktor, Volker, Volkmar. Helene hatte den Brief von Matthes einscannen und auf ihren Laptop übertragen lassen. Fieberhaft sucht sie jetzt die betreffende Datei. »Ich habe mich 1994 von meiner Frau scheiden lassen. Man hat uns gezwungen, das zu tun. Ob meine Exfrau heute noch über uns reden möchte, weiß ich allerdings nicht. V.« Da steht es. Die Zwangsscheidung war es, die Helene neugierig gemacht hatte. Sie hatte sich mit V. im Park von Sanssouci verabredet, am Fuße der berühmten Stufen, und war dann zum ersten Mal mit Viola zusammengetroffen, die ihre Irritation natürlich erwartet hatte. Dass auch sie nach dem Vorstellungsakt einige Schritte weitergegangen war, begründete sie später mit der Konfusion, die Helenes Erscheinung in ihr angerichtet hätte. Irgendwie waren beider Konfusionen noch nicht fertig miteinander gewesen und hatten sie die Köpfe nach hinten drehen lassen, im gleichen Augenblick. Helene hatte nun lachen müssen, das Schuldgefühl im Nacken, und auch Viola hatte nach einigen verlegenen Zuckungen ein breites Grinsen

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