Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
Kopf durch die Tür steckt, sie sieht, den Kopf zurücknimmt und stattdessen einen drahtigen Schraubenkörper hindurchschiebt, ganz zum Schluss das Köpfchen, es wippt ein bisschen nach. Kopf und Körper scheinen in gegenläufiger Bewegung zu sein, dreht sie sich oben nach rechts, dann unten nach links. Und umgekehrt. Nur ihre Füße stehen seltsam fest auf dem Boden, Helene sieht ihnen ungläubig zu, wie sie Schwungmasse aufnehmen und verteilen in Muskeln und Sehnen, deren Spiel deutlich zu sehen ist in den losen Birkenstock-Schlappen. Ein weißes Kurzkittelchen trägt sie zu den Caprihosen, die wegen der muskulösen Waden ein bisschen höher als nötig enden. An Mittel- und Ringfinger der linken Hand steckt je ein goldener Ring, nahezu identisch, mit einem Rubin als Körbchen inmitten goldener Blütenblätter.
Na, dann wollen wir mal!
Die Stimme erinnert Helene an die ihrer Lehrerin, die sie von der ersten bis zur vierten Klasse unterrichtete, sägend, von gelegentlichen kollernden Überschlägen begleitet. Was aber schwerer wiegt: Sie redet ununterbrochen, und die Sätze verebben zu ihrem Ende hin, der sie unterhaltende Luftstrom muss vor jedem neu in Fahrt kommen, sie spricht dadurch abgehackt, holpernd, schwer zu ertragen. Alt ist sie nicht, vielleicht fünfunddreißig? Sie setzt Helene ein Riemengerüst auf den Kopf und reibt an den Stellen, an denen sie die Elektroden aufsetzen will, irgendein Zeug auf die Kopfhaut. Spricht noch immer ununterbrochen, Helene versteht Bahnhof, von Schuhpaaren, Zahnspangen, Töchtern und einem Heilpraktiker, die Sätze mit verebbendem Laut kommen in keine rechte Beziehung zueinander, Helene bemüht sich, gibt schließlich auf, lässt sich fallen, hat während des Studiums gelernt, dass ein EEG nur aussagekräftig ist bei völliger Gelöstheit und Gelassenheit des Patienten, sie schließt ihre Augen und schmiegt sich in den Stuhl, verwundert, wie gut das geht, für so biegsam hat sie sich in den letzten Wochen gar nicht gehalten, die Wirbelsäule krümmt sich passgenau ein, die Hände liegen leicht geschlossen auf den Armlehnenköpfen, es ist schön, die Augen geschlossen zu halten und zu merken, wie sich jemand an ihr zu schaffen macht, den sie nicht kennt, der aber keine schlechten Absichten hat, wie sie sie dem Personal der Intensivstation vor wenigen Wochen, im Halbschlaf?, unterstellte. Es ist auch schön zu merken, dass das Leben sie wieder eingeholt, sie nicht entlassen hat wegen fehlender Teilnahme. Vielmehr hat das Leben die fehlende Teilnahme zum Anlass genommen, sich in Erinnerung zu bringen, im wahrsten Sinne des Wortes, und während sie jetzt, hier, auf dem EEG-Stuhl liegt, die Hände einer fremden Frau mit ihrem Kopf beschäftigt, fühlt sie auf einmal die Existenz dieser Frau geradezu davon abhängen, dass Leuten wie ihr etwas zustößt. Dass Leuten wie ihr ein Riemengerüst auf den Kopf gesetzt und nach einem Herd gefahndet wird. Die Ärzte verdanken ihre Existenz der der Schadhaften, für die sie zuweilen mehr Spott und Häme als Respekt übrighaben, während umgekehrt der Respekt, den die Schadhaften Ärzten gegenüber zeigen, in Ehrfurcht oder blinden Gehorsam ausartet. Seltsam, wie die Welt eingerichtet ist. Eine Verkehrung der Tatsachen, würde sie sagen, wenn man sie fragte, aber hier wird keiner fragen. Danach nicht.
Die Burschikose gibt Anweisungen. Augen schließen. Beim Ertönen eines Pieptones bitte öffnen. Bei neuerlichem Piepen schließen. Es ist schummrig im hinteren Halbschlauch, Helene muss sich mühen, auf das Piepen zu achten, der Schlaf kriecht, dunkles Schneckentier, über die Haut. Aber da folgen schon die nächsten Anweisungen: Augen offen halten, eine Flimmersequenz zu Provokationszwecken stört das Schneckentier, das sich schneller, als es von einem solchen zu erwarten wäre, zurückzieht. Noch einmal. Und noch einmal.
Dazwischen immer wieder Kontrollen, ob die Elektroden sicher sitzen. Nun bitte schnell und tief atmen! Minutenlang. Helene denkt an die Luftmatratzen, die sie als Kind aufgeblasen hat, während ihre Eltern das Zelt zum Ostseecamping aufbauten, und daran, wie schlecht ihr dabei regelmäßig wurde. Sie wartet auf das Einsetzen der Übelkeit, aber nichts geschieht.
Zwanzig Minuten sind vorbei.
Zwanzig Minuten Lebens .
Heute kommt ihr aber auch gar nichts in den Sinn, alles ist blitzeblank, wie gewienert mutet das an, was sie vor sich sieht, grau, metallisch glänzend, eine abschüssige Bahn, auf der jeder Gedanke sofort
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