Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
Stelle, einem winzigen Punkt nur, hat es eine kräftigere Ranke geschafft, das Glas zum Splittern zu bringen, und durch dieses Loch hat sie eben die einstürzenden Türme sehen können. Ja, nur so kann es sein: Sie muss diesen verdammten Efeu (oder was das für Zeugs ist) dazu bringen, die Kugel platzen zu lassen! Nicht ungefährlich, das Scherbenregnen, aber je dichter sie es ranken lassen kann, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es auf sie zurückfallen wird. Sie kann es nicht fassen, dass es die Welt gibt da draußen, sie hatte bis heute Kanäle in die Vergangenheit zu graben versucht, die doch immer nur ihre eigene Vergangenheit gewesen war, hatte den Film zu rekonstruieren versucht, dessen Hauptheldin sie immer noch ist, und hatte dabei einfach nicht gesehen, wie abgeschirmt sie hier existierte, in welchem verdammten Schonraum! Hatte in die Wolken gesehen als in eine Glocke, die sich über sie spannte und an den Horizonten zu Ende ging, und die Katzen, die seither ihren Weg gekreuzt hatten im Krankenhausgelände, waren ohne Linien geblieben zu den in den Wäldern lebenden wilden, die sie früher immer mitgedacht hatte, und die Haferflocken im Müsli waren einfach aus der Tüte gefallen und der Laptop vom Himmel und der Stift aus der Federtasche. So einfach war das gewesen, dass für alles Zweifache, Mehrfache gar kein Platz geblieben ist, und ihre Augen waren voll gewesen und doch leer, sie merkt es jetzt, da das Gesehene zu schrumpfen beginnt und das Gedachte auf einmal hinzukommt, noch zögernd, noch stolpernd, wie es jedem Ding einen Halo verpasst und jedem Wort eine große lederne Blase, die sich mit anderen Blasen um andere Wörter überschneidet, wie sich die Schnittmengen konturieren und neue Worte in ihrem Inneren entstehen … Immer so weiter.
Und immer mit dem Kopf durch die Wand, auch wenn der jetzt zwei frische Knochenlöcher und eine sichtbare Stirnfuge hat und womöglich empfindlicher ist als gedacht.
Das EEG erbrachte den Herdbefund, natürlich, aber keine Erregbarkeitssteigerung, die Ärzte gehen nun wohl auch von Helenes Wahrheit, dem Aufspringenwollen, aus, jedenfalls deutet das Visitengemurmel in diese Richtung. Also keine Medikamente, aber verstärkte Beobachtung. Medikamente gegen Epilepsie hätte sie ohnehin abgelehnt – sie weiß, wie sie umfiel. Heidemühlen wird um einige Tage verschoben. Wut will hochkochen, aber ehe sie aufschäumt, kann Helene sie kleiner drehen. Glück gehabt.
Sie hockt im Bett, hat das Kopfteil wieder hochgestellt und das linke Bein angezogen. Das rechte bewegt sich auch, aber zu wenig. Also packt sie die Hose und zieht, bis es angewinkelt neben dem linken steht. Hastig wird mit der linken die rechte Hand gegriffen, beide Arme sind nun um die Knie geschlungen. Sie hält still. Vermutlich sieht das entspannt aus. Eine Zigarette möchte sie rauchen. In dieser Position könnte sie allerdings auch keine Tasse, kein Buch zur Hand nehmen – das rechte Bein rutschte unweigerlich auf die Matratze. Früher hätte sie das gekonnt. Früher, das heißt: vor sechs Wochen.
Früher aber hat sie nie so im Bett gesessen, weil das Bett zu Hause kein verstellbares Kopfteil hat. Während sie das denkt, ist ihr, als lehne sich jemand gegen ihren Rücken. Jemand mit spitzen Wirbeln. Sogar den Kopf spürt sie, von dem jetzt langes Haar über ihre Schultern fällt, es ist schon ein bisschen grau, der Jemand also nicht mehr ganz jung, kein hennarotes Haar wie bei der einen oder schwarzbraunes wie bei der anderen Tochter, die beiden scheiden schon mal aus, obgleich sie wohl ausreichend spitze Wirbel haben. Der Jemand fasst jetzt über seinen und über ihren Kopf hinweg und legt seine Hand auf ihre Stirn, dass sie zittern muss über die weiche Berührung, sie spürt den sanften Druck mit aller Deutlichkeit auch auf den von der Operation gefühllosen Knochenpartien, und langsam lehnt sie sich tiefer zurück und löst die fest verschlungenen Hände, dass das rechte Bein kraftlos auf die Matratze fällt. Auch das linke rutscht schleppend ab. So sitzt sie minutenlang.
Sie weiß, wer der Jemand ist.
Die Jemand, wenn sie es richtiger sagen soll.
Viola heißt sie.
IV
NERVATUREN
SO PLÖTZLICH IST VIOLA ÜBER SIE HEREINGEBROCHEN , dass es ihr für den Rest des Tages die Sprache verschlägt. Zu anstrengend, nach Worten zu fahnden, die eine Antwort ergeben könnten auf die Fragen, die man ihr stellt. Stellt man ihr überhaupt Fragen? Wahrscheinlich. Die beiden Schwestern schauen
Weitere Kostenlose Bücher