Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
durchsuchen, sie wird übermorgen nach Rostock weiterfahren, ihre Freundin Tilda zu besuchen, können sie sich die Diskette abschminken.
Abschminken …
Helene erzählt von Violas Maskerade am Tag ihrer Ankunft in Berlin. Davon, dass sie am folgenden Tag viel weniger aufgelegt – und am dritten Tag, dem Sonntag, nur noch einen warmen, dunklen Lippenstift verwandt hatte. Ja, jetzt kann Helene sie damit sehen, wie sie ihr zulächelt und ihre Hand hält …
Was sie nicht erzählt: Sie waren nach dem Besuch beim Italiener schweigend nach Hause gefahren, Matthes hatte gewartet auf sie und noch eine Flasche Wein entkorkt, aber Viola hatte sich verabschiedet ins Bett, sie sei zu müde, hatte sie gesagt. So hatten sie alleine angestoßen, aber der Abend wollte es, dass sie die ganze Flasche noch geleert hatten, was viel für sie war. Als Matthes sich anschickte, in sein Zimmer hochzusteigen, hatte ihn Helene am Ärmel erwischt und ihm in einem Anflug wilder Wut die Sachen vom Leib gefetzt, dass er gar nicht mehr wusste, wie ihm geschah, aber er hatte mehr und mehr mitgemacht bei dem heftiger werdenden Match. Sie hatten die Tür des gemeinsamen Schlafzimmers sogar verschlossen, nachdem Matthes Lottchen in deren Bett getragen hatte, und waren in hitzigem Aufruhr übereinander hergefallen, dass Matthes vor ungläubiger Freude sie mit immer größer werdenden Augen lange und durchdringend angeschaut hatte. So war es auch verebbt: Sie hatte sich in seinen Pupillen gespiegelt sehen können und etwas wie Glück gefühlt, das weit vom Honigmond entfernt und dennoch süß gewesen war, und als sie am nächsten Morgen erwacht waren, hatten sie beide blaue Münder gehabt.
Aber wie ein Vertrauensbruch fühlt sich ihr Schweigen nicht an.
Sie lächelt.
Wie war sie mit Viola auseinandergegangen? Matthes hatte an jenem Morgen nicht von ihr lassen können und bei jeder Gelegenheit ihre Nähe gesucht, beim gemeinsamen Frühstück hatte er ihr das Ei aufgeschlagen und ihr löffelweise das heiße, weiche Etwas in den Mund geschoben. Er hatte seine Hand auf ihren Arm gelegt und sie wie beiläufig am Schenkel berührt, ihren Bauch gestreift, ihr Haar aus der Stirn gestrichen. Viola hatte am Abend zuvor wahrscheinlich all ihren Mut zusammengenommen, um jenen Satz zu sagen, ich wollte den Riss spüren, den das in dir auslöst, und da hineinfallen, und die Turtelei muss ihr vorgekommen sein wie eine sehr eindeutige Absage, und wenn auch Helene versucht hatte, Matthes davon abzuhalten, sie so zu hofieren, so wusste sie doch, dass die Nacht ihr Messer gezückt hatte. Das Band zwischen Viola und ihr war erst einmal gekappt. Sie hatte das nicht erklären können, hatte Violas Blicke aufzufangen und in ihre Augen zu lenken versucht, aber Viola war ihr ausgewichen, hatte am Vormittag ihre Sachen gepackt und ihr herzlich für das schöne Wochenende gedankt, an dem sie endlich wieder einmal unter Menschen gewesen sei.
Mach’s gut, Helene.
Carla hofiert sie nicht beim Frühstück. Es ist das letzte vor ihrer Abreise. Helene muss sich selber holen, was sie essen will, denn Carla ist vollauf damit beschäftigt, sich Schmäckerchen herauszupicken aus dem übervollen Büfett. Auch sie ist ganz die Alte, denkt Helene. Ihr Grinsen fällt offen aus, größer, als ihr lieb ist. Sogar der Schadhafte guckt fragend, und das will bei seiner allgegenwärtigen Zurückhaltung etwas heißen. Helene aber grinst, und weiter kann sie nichts tun.
Carla hat ihr gestern Glück gewünscht und gesagt, dass sie ziemlich beruhigt sei: Helene sei dieselbe Freundin wie eh und je, sogar offener, denn sie hätte sich nicht nach diesem und jenem gestreckt, ehe sie etwas habe gucken lassen von sich. Überrascht war sie gewesen darüber, weil sie sich nicht erinnern konnte, früher auf Rückversicherung aus gewesen zu sein, wenn es um sie selbst gegangen war. Aber wenn Carla das sagte, musste es schon so gewesen sein. Hatte nicht auch Billy bei seinem letzten Besuch gesagt, dass er viel schneller als früher das Gefühl hätte, im direkten Austausch mit seiner Mutter zu stehen? Seltsam. Wenn sich das Gehirn rückwärts zusammensetzt, tut es das vielleicht ohne all die angelernten Mechanismen der Angst, irgendjemand könne ihrer habhaft werden infolge unbedachter Äußerungen. Vielleicht stimmte es ja: Sie braucht zwar lange, bis sie sich zu einem wie auch immer gearteten Sachverhalt einlässt, aber sie tut es, ohne in Schlangenlinien gut und böse abgewandert zu haben. Sie tut es, ohne
Weitere Kostenlose Bücher