Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Schmidt
Vom Netzwerk:
reichende Zumutung umdefinierte und ihm eine Art Suizid unterstellte, mit dem er sie auf sehr berechnende Art und Weise alleingelassen hatte.) Sie wäre wirklich gestorben gewesen für ihre Frau, sagte Viola. Helene fühlte sich bestätigt.
Warum hast du dich so aufgedonnert, als du gestern gekommen bist?
Viola sagte, nach einer Schweigeminute:
Ich wollte den Riss spüren, den das in dir auslöst, und da hineinfallen.

Oh, Helene erinnert sich an das Gefühl, sich im Körper eines anderen Menschen verstecken zu wollen. Sie kennt es von den Gelegenheiten her, da sie ganz klein werden und unter Matthes’ Achsel schlüpfen wollte. Am liebsten hätte sie dort einen Känguru-Beutel gehabt, in den sie einfach hineinrutschen konnte, wann immer ihr danach war, und stets war das verbunden gewesen mit dem Wunsch, dauerhaft unsichtbar zu bleiben. (Sie gießt sich Yogi-Tee ein, den Matthes ihr mitgebracht und den sie in der Küche eine Stunde lang hat kochen lassen, mit Milch und Honig. Die Schwester hat ihn in ihr Zimmer gebracht. Der Chai schmeckt süß, sie lässt ihn an den Mandelresten entlanglaufen, die sie heute deutlich im Rachen spüren kann, wie eine Seitenstrangangina fühlt sich das an. Der Tee bringt für den Moment Linderung.) Aber Matthes hatte kein Schlupfloch für sie, er hatte immer gelacht, wenn sie sich an seiner linken Seite sehr klein gemacht, den Kopf unter seine Achsel geschoben und das rechte Bein bis über seinen Nabel hochgezogen hatte. Irgendwann war ihm dies dann lästig gefallen, er hatte, meist schon im Halbschlaf, sich räuspernd weggedreht und ihr seinen Hintern in die Schoßbeuge geschoben. Dabei war sie es gewesen, die es liebte, von ihm eingepackt zu werden: ihren Hintern also in seiner Schoßbeuge und seine Brust im Rücken und seine Arme fest um ihren Oberkörper gewickelt.
Wie lange das her ist?
Das ist schon nicht mehr wahr, denkt sie. Und: Das ist schon wahr.

So volle Tage!
Helenes Stehversuche sind in Laufversuche umfunktioniert worden, links kann sie sich an einer langen Stange an der Wand festhalten, und rechts wird sie von der Physiotherapeutin gepackt. Zwanzig Schritte. Bei den nächsten zwanzig Schritten, zurück, muss sie aber versuchen, sich mit der rechten Hand an der Stange festzuhalten. Eigentlich ist sie nach vierzig Schritten erschöpft, gleichzeitig aber euphorisiert sie die unvermutete Aussicht, vielleicht eines Tages doch wieder laufen zu können. Schon die Physiotherapeutin in der stroke unit hatte das ja mit beiläufiger Bestimmtheit vorausgesagt, aber natürlich hatte Helene das nicht glauben können. Es fühlt sich noch immer unwirklich an, doch selbst wenn sie stolpert: Sie schafft vierzig Schritte. Da will sie aber auch gleich weitere vierzig anhängen, und noch mal und noch mal. Die Physiotherapeutin lacht, es ist genug für heute, andere Patienten warten. Aber sie wird mit der Stationsleitung sprechen, ob Helene vielleicht nächste Woche schon einen Rollator bekommen kann.
Einen Rollator also. Ein Omagerät. Sie war Leuten mit so einem Ding stets ausgewichen, erinnert sich sogar, sich gefragt zu haben, warum sie denn nicht lieber gleich einen Rollstuhl benutzten, das war doch sicherer … Auch sie hat sich mit dem Rollstuhl gutgestellt, die Maße für einen eigens für sie zu fertigenden waren ja schon in der stroke unit abgenommen worden. Sie streichelt über die Räder, schämt sich sofort dafür, sieht sich um. Irgendwie merkt sie, dass solche Aussichten sie durcheinanderbringen. Hirnflattern. Schwer zu verarbeiten. Schlafen will sie, jetzt, sofort, aber es ist Zeit für die Psychologin. Ungern macht sie sich auf den Weg.
Schwierigkeiten, Dinge auf vorgelegten Bildern zu benennen, hat sie nicht. Aber dann kommt dieselbe Aufgabe, die ihr auch in der stroke unit vorgelegt worden war. Sie soll schnell die Richtung ändern, in bestimmter Zeit möglichst viele Obst- und Gemüsesorten im Wechsel aufsagen, wobei Sorten mit gleichem Grundwort nicht zählen. Nach wie vor gerät sie arg ins Schlingern. Sie erinnert sich jetzt aber, das früher hervorragend gekonnt zu haben, sie hatten solcherart Tests während des Studiums im Zuge der Arbeit einer älteren Kommilitonin absolviert, die zu Fragen der Kreativität diplomierte. Wenn sie es sich recht überlegt, wird ihre Sprachbeeinträchtigung greifbarer dadurch: Sie kann nicht mehr wie früher durch lange Reihen von Worten, auch Synonymen, flanieren, die an Klammern aufgehängt sind und nur darauf warten, von ihr

Weitere Kostenlose Bücher