Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
sich Rechenschaft darüber abgelegt zu haben, wer im Raum ist und wer nicht. Sie tut es, ohne die möglichen Reaktionen auf ihre Einlassungen durchgegangen zu sein. Ja, doch, tatsächlich: Früher hatte sie genau überlegt, wer was entgegnen würde, wenn sie den Mund aufmachte! Und wenn ihr unbekannte Personen im Raum gewesen waren, hatte sie abgewartet, bis diese sich sozusagen enttarnt hatten durch ihre Reden, möglichst dann erst hatte sie vorsichtig zu sprechen begonnen.
Du hast ja recht!, sagt sie erstaunt, als Carla mit einem Plunderteilchen zurückkommt. Sie sieht sie fragend an, und Helene berichtet, ein bisschen umständlich, was ihr eben durch den Sinn ging.
Ach so , sagt Carla, gut, aber ich weiß, dass ich recht habe …
Zum ersten Mal, seit sie mit ihm an einem Tisch sitzt, sieht Helene den Schadhaften lächeln, er versteht also, worüber sie sprechen, und bekommt auch Nuancen mit? Das freut sie. Sie hatte neulich seinen Namen entziffert, als sie während der Physiotherapie im Plan nachgeschaut hatte, wer er war: Wojziech Kostrzynski hatte da gestanden. Als er am letzten Sonntag Besuch hatte, war er mit seiner Familie am See gewesen, sie hatte jedenfalls angenommen, dass es sich um seine Familie handelte. Eine Frau, ein Mann und zwei jüngere Brüder, über Ähnlichkeiten lässt sich in diesem Fall ja nur spekulieren, und die Eltern hatten Polnisch zu ihm gesprochen, während die beiden Jungen ein klares, akzentfreies Deutsch bevorzugten. Es hatte kein Gespräch gegeben, er hatte einfach nichts gesagt, wie er auch hier und in anderen Zusammenhängen nichts sagte, sondern nur stumm dreinschaute und sich nichts entgehen ließ. Das schon. Carla öffnet die Handtasche, die sie einfach überall mit hinnehmen muss, und holt eine Stange Konfekt heraus. Auch den Schadhaften lädt sie ein, sich etwas zu nehmen. Tatsächlich greift er, nachdem seine Hand zwei- oder dreimal zurückgezuckt ist, zu. Sie lassen es sich schmecken.
Helenes Anerkennung wächst, strahlender Nimbus um Carlas Haupt.
Sie hat Carla mit dem Rollstuhl bis zum Bus gebracht. Abschiedsfahrt, denn als sie zurückkommt, steht der Rollator in ihrem Zimmer. Sie umfährt ihn, drückt die Bremse, steht auf, setzt sich aber wieder. Wagt es nicht, sich mit dem Ding fortzubewegen. Da kommt auch schon die Oberschwester, ausnahmsweise wie gerufen, denn Helene will sich mit Rollator langsam anfreunden und die Oberschwester bitten, ihr ein bisschen behilflich zu sein.
Die Oberschwester ist eigentlich nur gekommen, ihren Rollstuhl mitzunehmen.
Interessenkonflikt.
Ehe sie dazu kommt, ihn zu benennen, ist die Oberschwester mit dem Rollstuhl auf und davon. Sie ist platt. Steht. Zittert jetzt am Rollator. Setzt sich aufs Bett und versucht, sich zu fassen. Schwieriges Unterfangen, das muss sie zugeben. Starke Hände hätte sie jetzt gern um sich. Zupackende, die schneller sind, als sie reagieren kann, wenn sie stolpert, zu stürzen droht. Als sie sich besinnt, merkt sie, dass sie an Maljutka Malysch gedacht hat. Maljutka Malysch ist größer als Matthes und verspricht Schutz schon durch ihr breites Kreuz. Matthes verspricht auch Schutz, aber erst auf den zweiten Blick, der gelernt hat, dass Matthes schützt. Matthes ist noch viel länger als Maljutka Malysch, aber mit breiten Schultern kann er nicht aufwarten. Einen Moment lang ist sie so irritiert, dass ihr Matthes mit Maljutkas Gesicht erscheint, Maljutka mit dem von Matthes, ihre Gestalten verschwimmen, werden eins, gehen auseinander. Zum Glück jede mit dem richtigen Kopf. Sie atmet jetzt schnell. Sie erinnert sich plötzlich an einen Tag im März, sie hatte sich mit Maljutka im Pergamon-Museum verabredet. Das Markttor von Milet hatten sie eingehend betrachten wollen, denn Maljutka hatte sich zu ihrer Überraschung einen historischen Roman vorgenommen, der im sechsten Jahrhundert vor Christus spielt. Jetzt erinnert sich Helene, dass Maljutka im billigen Januar in die Türkei, nach Izmir, geflogen war und sich umgesehen hatte am Ort der Überlieferung. Das Geld dafür hatte sie von ihrer Mutter zum Geburtstag bekommen. Sie war ziemlich verängstigt wiedergekommen, denn in der muslimischen Türkei war es, obwohl sie sich indifferent gekleidet, die langen Haare gekürzt und sich sogar ein Paar derbe Wanderschuhe gekauft hatte, ein Vabanquespiel gewesen, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Mehrmals war sie in kleinen Dörfern derb angemacht worden und froh gewesen, dass sie nicht allein dorthin gefahren war,
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