Du stirbst zuerst
dich wehrst.«
Ich sehe den Schacht, blicke nach oben, erkenne den Raum, die Farm und die große Stadt, die vor Licht und Leben brodelt und die bald ausgelöscht und leer sein wird. Ein Denkmal für eine verlorene Welt. Es gibt nur eine Möglichkeit, es zu verhindern. »Wirf mich hinein!« Ich werde mir die Knochen brechen, aber ich werde überleben.
»Schon gut.« Lucy kniet neben mir nieder. »Wir tun es zusammen.«
Ich lasse sie nicht mehr aus den Augen, sie hält mich fest, und ich fasse sie bei den Händen. »Ich bin bereit«, sage ich ruhig. »Wirf mich hinein!«
Mein Vater schiebt, Vanek brüllt, und ich stürze in den tiefen, dunklen Schacht.
Das Haus ist riesig, eine weitläufige Villa. Lucy nennt es einen Palast, aber danach sieht es eigentlich nicht aus. Ich glaube, sie sähe sich einfach gern als Prinzessin. An einem langen, schmalen Tisch sitzt sie mir gegenüber und hebt das Glas.
»Das Essen schmeckt köstlich.«
»Ja, das finde ich auch.«
Ich lächle. Langsam und mit schweren Schritten geht jemand durch das Zimmer über uns, aber das stört mich nicht. Eigentlich überhöre ich in diesem Haus so gut wie alles und halte die meisten Türen geschlossen, damit Lucy und ich unsere Einsamkeit genießen können. Die meisten der Anderen haben sich verlaufen und können uns sowieso nicht finden. Wie ich schon sagte, es ist ein sehr großes Haus.
Nicht einmal Vanek findet den Ausgang.
Ich nehme den Löffel in die Hand – poliertes Silber, wundervoll graviert – und schöpfe ein wenig Essen aus der kostbaren Porzellanschale. Hafergrütze. Anscheinend bekommen wir vor allem Hafergrütze. Manchmal gibt es auch andere Gerichte: Apfelkompott, rote Grütze, cremige Suppen zu besonderen Anlässen. Ich bin nicht sicher, worin diese besonderen Anlässe bestehen, aber das beschäftigt mich nicht weiter. Ich habe ein luxuriöses Haus, das Essen ist köstlich und kostet nichts, und meine beste Freundin ist die Frau meiner Träume. So leben wir schon … ich weiß nicht mehr, wie lange. Sehr lange jedenfalls. Ich bin so glücklich wie noch nie.
Ein Schatten zieht an der Tür vorüber, dunkel und nur halb ausgeformt. Ich betrachte den leeren Durchgang und warte. Gleich darauf taucht der Schatten wieder auf und spricht mich mit dumpfer Stimme wie aus weiter Ferne an.
»Wer bist du?«
Ich blicke Lucy an, dann wieder den Schatten unter der Tür.
»Ich bin der Herr dieses Hauses.«
Schweigend steht er da und bewegt sich nicht. Es ist ein Realität gewordener Schatten, der an den Rändern ein wenig flimmert. Schließlich hebt er einen durchsichtigen schwarzen Arm. »Wer bin ich?«
»Du bist mein Gast«, sage ich leise. »Du darfst dich überall aufhalten, das Haus aber nicht verlassen.«
»Dann bist du ein Gefängniswärter.«
»Ja, in gewisser Weise.«
»Worin besteht mein Verbrechen?«
Ich lege den Löffel weg. »Wenn du das herausgefunden hast, kannst du wiederkommen, und dann reden wir darüber«, erkläre ich.
Der Schatten wendet sich um, irreale Schleier wabern wie eine Schleppe hinter ihm her. Grußlos geht er, und ich widme mich wieder dem Essen.
»Sie lernen«, meint Lucy.
»So ist es.«
»Und sie werden mutiger, sie wagen sich aus der Deckung hervor.«
Schweigend starre ich den Tisch an und spiele mit der Gabel.
»Da ist der Nachtisch.« Sie hält ein silbernes Tablett hoch und hebt anmutig den Deckel. »Es gibt Pfirsiche.«
Ich lächle. »Ich mag Pfirsiche.« Mit einer silbernen Gabel spieße ich eine der Früchte auf und sehe zu, wie der Saft hinunterläuft. Ich schiebe sie mir in den Mund.
Sie schmeckt köstlich.
Zu diesem Buch
Mit »Ich bin kein Serienkiller« gelang dem jungen US-Autor Dan Wells ein Überraschungserfolg, der die Grenzen zwischen Thriller und Fantasy sprengte. Nun erzählt Dan Wells eine ganz neue Geschichte: Michael erwacht in einem Krankenhaus. Was ist in den letzten zwei Wochen geschehen? Er erinnert sich nicht. Er weiß nur, dass mit ihm etwas ganz und gar nicht stimmt. Er sieht Monster. Er hört fremde Stimmen in seinem Kopf. Die Ärzte behaupten, er habe Wahnvorstellungen. Doch Michael weiß es besser. Die Monster sind keine Vision. Sie sind real. Und sie verfolgen einen dunklen Plan. Und wenn er den Kampf aufnimmt – wer wird zuerst sterben?
Dan Wells , Anfang dreißig, studierte Englisch an der Brigham Young University in Provo, Utah. Der überzeugte Mormone war Redakteur beim Science-Fiction-Magazin »The Leading Edge«. Mit »Ich bin kein Serienkiller«
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