Du wirst noch an mich denken
sich.«
Nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, blieb Aunie mit dem Hörer in der Hand ein paar Sekunden lang reglos in der hereinbrechenden Dämmerung sitzen. Schließlich legte sie ihn zurück auf die Gabel und stand auf, um die Vorhänge zuzuziehen und das Licht einzuschalten. Sie drehte die Heizung höher und holte aus ihrer Handtasche das Vorlesungsverzeichnis hervor, das man ihr im College mitgegeben hatte. Nach einem kurzen Blick auf die Speisekarte bestellte sie den Zimmerservice, dann zog sie ein warmes Sweatshirt, Leggings und zwei Paar Socken an, schob den kleinen Schreibtisch und einen Stuhl vor den Heizkörper und ließ sich nieder, um die Unterlagen zu studieren.
Bei dem Beratungsgespräch am frühen Nachmittag hatte ihr die Studienberaterin des Colleges zu bedenken gegeben, dass es bereits ziemlich spät war, um sich noch für das Wintersemester einzuschreiben. Ein oder zwei der Kurse, für die sie sich interessierte, hatten diese Woche begonnen, und ein weiterer war schon voll. Aunie war etwas enttäuscht gewesen, aber die Studienberaterin hatte ihr auch Hoffnung gemacht. Sie hatte gemeint, es sei nicht ungewöhnlich, dass Studenten Kurse nach der ersten Woche wieder sausen ließen, deshalb bestünde durchaus noch eine realistische Chance, dass Aunie die Kurse belegen konnte, die sie sich ausgesucht hatte. Als sie jetzt in ihrem Hotelzimmer saß, suchte sie sich noch ein paar Alternativen heraus und füllte die Anmeldeformulare aus, um sie am nächsten Tag im College abzugeben.
Danach wusste sie nichts mehr mit sich anzufangen. Das bestellte Essen wurde gebracht, und während sie aß, sah sie die Nachrichten im Fernsehen an. Dann stellte sie das Tablett vor die Tür, lief im Zimmer auf und ab und überlegte, was sie tun könnte. Sie überflog die Liste der Pay-TV-Filme, die innen an der Tür des Fernsehschranks hing, entdeckte jedoch keinen, der sie interessierte. Sie nahm ein Taschenbuch und versuchte zu lesen, aber schon nach kurzer Zeit warf sie es wieder auf das Nachtkästchen neben dem Bett.
Sie ging langsam hinüber zum Fenster und zog den Vorhang zurück. Inzwischen war es völlig dunkel, und sie betrachtete das viel gepriesene Panorama, das sich ihr von ihrem Zimmer aus bot. Vor ihr erstreckte sich eine lichterübersäte Stadtlandschaft, und ihr Blick folgte einer hell erleuchteten Fähre, die langsam über die Elliott Bay auf die Stadt zuglitt. Die Kälte, die von der Glasscheibe ausstrahlte, ließ sie frösteln, und sie schloss den Vorhang wieder.
Sie nahm die Abendzeitung und las einen Bericht über einen Mann, der festgenommen worden war, weil er an die hundert Frauen mit obszönen Anrufen belästigt hatte. Weiter wurde berichtet, dass in einem anderen Fall die Telefongesellschaft und die Polizei eng zusammenarbeiteten, um einem anonymen Anrufer auf die Spur zu kommen, der die Studentinnen eines Colleges in Seattle in Angst und Schrecken versetzte. Aunie legte die Zeitung zur Seite. Sie hatte keine Lust, sich mit den Problemen anderer Leute zu beschäftigen, davon hatte sie selbst genug.
Auf ihrer Wanderung durch das Hotelzimmer hatte sie es vermieden, in einen der Spiegel zu blicken, aber jetzt trat sie doch vor einen. Sie stützte sich mit den Händen auf das Toilettentischchen, das davor stand, und hob langsam den Kopf.
Ihr ganzes Leben lang hatte man ihr gesagt, wie schön sie sei. Manchmal war ihre Schönheit ein Segen gewesen, manchmal ein Fluch. Aber ganz gleich, von welcher Seite sie es betrachtete, eins war klar. Die Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, würde ganz gewiss kein solches Kompliment zu hören bekommen.
Die Schwellungen waren noch deutlich sichtbar. Erst vor zwei Tagen hatte sie das Krankenhaus verlassen, ihr Bankkonto aufgelöst, eine Firma damit beauftragt, die wenigen Habseligkeiten, die sie behalten wollte, zu verpacken und einzulagern, selbst gerade so viel in einem Koffer verstaut, wie sie tragen konnte, und sich nach Flügen erkundigt. Sie hatte zwar nicht genau gewusst, wohin sie wollte, aber sie hatte das Bedürfnis verspürt, sich so weit wie möglich von Atlanta zu entfernen, solange Wesley noch im Gefängnis saß. Sie hoffte nur, dass er keine Privatdetektive angeheuert hatte, um sie überwachen zu lassen. Nein, das sicher nicht. So viel Zeit hatte er vor seiner Verhaftung nicht gehabt.
Es sei denn natürlich, er hätte entgegen seiner Behauptung den einen, der schon früher für ihn gearbeitet hatte, weiter engagiert. Sie
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