Dublin Street - Gefaehrliche Sehnsucht
einmal Französisch.« Ellie schnaubte und wartete auf einen Kommentar meinerseits.
»Spricht dein Bruder Französisch?«
»Oh nein.« Ellie winkte ab. »Braden und ich sind Halbgeschwister. Wir haben denselben Vater. Unsere Mütter leben beide noch, aber unser Dad ist vor fünf Jahren gestorben. Er war ein sehr bekannter Geschäftsmann. Hast du schon einmal von Douglas Carmichael & Co. gehört? Es ist eines der ältesten Immobilienmaklerbüros hier in der Gegend. Dad hat es von seinem Dad übernommen, als er noch ganz jung war, und eine Grundstückserschließungsfirma gegründet. Er besaß auch ein paar Restaurants und einige der Souvenirläden hier. Es ist ein richtiges Miniimperium. Seitdem er tot ist, führt Braden es weiter. Jetzt ist er es, den alle hier belagern – jeder versucht, ein Stück vom Kuchen abzubekommen. Und da alle wissen, wie nah wir uns stehen, haben sie auch versucht, mich für ihre Zwecke zu benutzen.« Ihr hübscher Mund verzog sich bitter, ein Ausdruck, der ihrem Gesicht sonst fremd zu sein schien.
»Das tut mir leid.« Ich meinte es ehrlich; ich wusste, wie das war. Es war einer der Gründe, weswegen ich beschlossen hatte, Virginia den Rücken zuzukehren und in Schottland einen Neuanfang zu wagen.
Als würde sie meine Aufrichtigkeit spüren, entspannte sich Ellie. Ich würde zwar nie verstehen, wie jemand einer Freundin solche Dinge anvertrauen konnte, von einer Fremden ganz zu schweigen, aber diesmal jagte mir Ellies Offenheit keine Angst ein. Gut, es mochte dazu führen, dass sie von mir ähnliche Bekenntnisse erwartete, aber sowie sie mich besser kannte, würde sie sicherlich begreifen, dass sie keine zu hören bekommen würde.
Zu meiner Überraschung war zwischen uns ein äußerst angenehmes Schweigen eingetreten. Als wäre ihr das gerade auch aufgefallen, lächelte Ellie mich an. »Was machst du denn hier in Edinburgh?«
»Ich lebe jetzt hier. Doppelte Staatsbürgerschaft. Ich fühle mich hier mehr zu Hause als in Amerika.«
Die Antwort gefiel ihr.
»Bist du Studentin?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe gerade meinen Abschluss gemacht. Donnerstags und freitags arbeite ich abends im Club 39 in der George Street. Aber momentan versuche ich, mich hauptsächlich auf die Schriftstellerei zu konzentrieren.«
Ellie schien von diesem Geständnis begeistert. »Super! Ich wollte immer schon mit einer Schriftstellerin befreundet sein. Und ich finde es mutig, dass du das durchziehst, was du wirklich willst. Mein Bruder hält mein Studium für Zeitverschwendung, er hätte lieber, dass ich für ihn arbeite, aber ich finde es toll. Ich gebe auch Kurse an der Uni. Es … nun, ich bin glücklich dabei. Und ich gehöre zu den grässlichen Leuten, die es sich leisten können, das zu tun, was ihnen Spaß macht, auch wenn nicht viel dabei herumkommt.« Sie schnitt eine Grimasse. »Das klingt schrecklich, nicht wahr?«
Ich gehörte nicht zu den Leuten, die sich anmaßten, über andere zu urteilen. »Es ist dein Leben, Ellie. Du hast in finanzieller Hinsicht Glück gehabt. Das macht dich noch lange nicht zu einem schrecklichen Menschen.« In der Highschool hatte ich eine Therapeutin gehabt. Ich konnte ihre näselnde Stimme noch hören: Warum kannst du nicht denselben Gedankengang auf dich anwenden, Joss? Dein Erbe anzunehmen macht dich nicht zu einem schlechten Menschen. Deine Eltern haben nur das Beste für dich gewollt.
Im Alter von vierzehn bis achtzehn Jahren hatte ich in meiner Heimatstadt in Virginia bei zwei Pflegefamilien gelebt. Keine von beiden hatte viel Geld gehabt, und ich, die in einem großen, komfortablen Haus gewohnt hatte und an gutes Essen und teure Kleider gewöhnt gewesen war, hatte mich auf einmal hauptsächlich von Spaghetti ernähren und meine Klamotten mit einer jüngeren ›Pflegeschwester‹ teilen müssen, die dieselbe Größe gehabt hatte wie ich. Als mein achtzehnter Geburtstag näher gerückt war und jeder gewusst hatte, dass ich ein kleines Vermögen erben würde, war ich sowohl von einer Anzahl von Geschäftsleuten aus unserer Stadt bedrängt worden, die gute Investitionsanlagen suchten und das, was sie für ein naives Kind hielten, ausnutzen wollten, als auch von einem Klassenkameraden, der mich zu überreden versucht hatte, Geld in seine Website zu stecken. Ich glaube, der Umstand, dass ich während meiner prägenden Jahre wie ›die andere Hälfte der Menschheit‹ gelebt hatte und dann von unechten Freunden belästigt worden war, deren Interesse mehr
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