Duddits - Dreamcatcher
sagen.
»Was?«, fragt Biber und meint damit: Was jetzt?
»Wenn wir nachher zu Gosselin’s gehen, muss jemand Duds anrufen. Falls er sich Sorgen macht.«
Niemand erwidert etwas. Der Gedanke, ihren neuen Behindifreund anzurufen, verschlägt ihnen allen die Sprache. Henry muss daran denken, dass Duddits wahrscheinlich in seinem ganzen Leben noch nie angerufen wurde; das wird sein allererster Telefonanruf.
»Da hast du wahrscheinlich recht«, sagt Pete … und hält sich dann den Mund zu, als ob er etwas Belastendes gesagt hätte.
Biber, der bis auf seine blöden Boxershorts und seine noch blödere Jacke nackt ist, schlottert mittlerweile richtig. Der Lutscher zittert an seinem angenagten Stiel.
»Eines Tages wirst du mal an diesen Dingern ersticken«, sagt Henry zu ihm.
»Ja, das sagt meine Mama auch immer. Können wir jetzt reingehen? Mir ist kalt.«
Sie gehen zurück zu ihrer Hütte, wo ihre Freundschaft dreiundzwanzig Jahre später ein Ende finden wird.
»Ist Richie Grenadeau wirklich tot? Was meint ihr?«, fragt Biber.
»Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal«, sagt Jonesy. Er sieht Henry an. »Wir rufen also Duddits an – ich habe ein eigenes Telefon, und wir können die Gebühren auf meine Nummer umbuchen lassen.«
»Ein eigenes Telefon«, sagt Henry. »Du Glückspilz. Deine Eltern verwöhnen dich aber wirklich, Gary.«
Gary genannt zu werden geht ihm normalerweise gegen den Strich, aber nicht so an diesem Morgen – an diesem Morgen hat Jonesy andere Sorgen. »Ich hab’s zum Geburtstag bekommen, und die Ferngespräche muss ich selbst von meinem Taschengeld bezahlen, also mach mal halblang. Und wenn das hier vorbei ist, ist das nie passiert. Nie passiert! Habt ihr verstanden?«
Sie nicken alle. Nie passiert. Wirklich nie passiert –
3
Ein Windstoß schob Henry nach vorn, fast in den Elektrozaun hinein. Er kam wieder zu sich, schüttelte die Erinnerungen ab wie einen schweren Mantel. Sie hätten gar nicht ungelegener kommen können (manche Erinnerungen kamen natürlich nie gelegen). Er hatte auf Underhill gewartet, hatte sich fast den Allerwertesten abgefroren und auf seine einzige Chance gelauert, hier herauszukommen, und Underhill hätte genau an ihm vorbeigehen können, während er dort in Tagträumen versunken stand, und dann hätte er so richtig schön in der Scheiße gesteckt.
Aber Underhill war nicht vorbeigegangen. Er stand auf der anderen Seite des Zauns, die Hände in den Taschen, und schaute Henry an. Schneeflocken landeten auf der durchsichtigen, käferförmig gewölbten Atemmaske, schmolzen in der Wärme seines Atems und rannen daran hinunter wie …
Wie Bibers Tränen damals, dachte Henry.
»Sie sollten zu den anderen in den Stall gehen«, sagte Underhill. »Hier draußen verwandeln Sie sich noch in einen Schneemann.«
Henry klebte die Zunge am Gaumen. Sein Leben hing buchstäblich davon ab, was er jetzt zu diesem Mann sagte, und ihm fiel kein guter Anfang ein. Ja, er brachte kein Wort heraus.
Und wozu auch die Mühe?, wollte die Stimme in seinem Innern wissen – die Stimme der Dunkelheit, seiner alten Freundin. Jetzt mal im Ernst: Wozu die Mühe? Wieso lässt du sie nicht machen, was du selber sowieso vorhattest?
Weil es nicht mehr um ihn allein ging. Und er bekam immer noch nicht den Mund auf.
Underhill stand dort noch für einen Moment und sah ihn an. Die Hände in den Taschen. Seine Kapuze war nach hinten geweht, und man konnte sein kurzes dunkelblondes Haar sehen. Der Schnee schmolz auf der Maske, die die Soldaten trugen und die Internierten nicht, denn die Internierten brauchten keine Maske; für die Internierten stand, wie auch für die Grauen, eine End lösung bereit.
Henry wollte so dringend etwas sagen und konnte es nicht, konnte es einfach nicht. Ach Gott, Jonesy hätte an seiner Stelle hier sein sollen; Jonesy war immer der bessere Redner gewesen. Underhill würde weitergehen und ihn mit dem ganzen Was-wäre-gewesen-wenn allein lassen.
Aber Underhill blieb noch einen Moment.
»Es wundert mich gar nicht, dass Sie meinen Namen kennen, Mr. … Henreid? Heißen Sie Henreid?«
»Devlin. Das ist mein Vorname, den Sie da aufgeschnappt haben. Ich heiße Henry Devlin.« Sehr vorsichtig schob Henry seine rechte Hand durch eine Lücke zwischen Stacheldraht und Elektrodraht. Nachdem Underhill sie ein paar Sekunden lang mit ausdrucksloser Miene betrachtet hatte, zog Henry seine Hand zurück in seine Ecke der neu eingeteilten Welt, kam sich idiotisch dabei vor und
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