Duenne Haut - Kriminalroman
nur so lange aushalten können?“, fragt er nochmals.
„Verdrängung“, stammelt sie, „Scham, Schuldgefühle. Der übliche Cocktail eben.“
„Scham und Schuld sollte da wohl ein anderer empfinden – wenn ich das mal so rational sagen darf.“
Sie wird von einem kurzen Lacher geschüttelt. „Frauen reagieren halt manchmal irrational.“ Vor allem, wenn sie den Mann nicht bekommen, den sie sich wünschen, fügt sie im Geiste hinzu.
„Wann genau ist das passiert?“
„Vorletzten Silvester“, sagt sie. „Ich bin zu ihm ins Auto gestiegen, nachdem du für mich außer Reichweite warst.“
„Aber …“ Er steht erschrocken auf.
„Keine Sorge, ich mache nur mich selbst dafür verantwortlich, Guido. Hätte ich mich damals nicht betrunken, es wäre nie so weit gekommen. Ich hätte mich wehren können, wäre vermutlich nicht einmal mit hinauf in sein Büro gegangen. Du siehst, so furchtbar irrational sind meine Scham- und Schuldgefühle gar nicht.“
Die nächsten Minuten vergehen schweigend. Sie tauschen nur Blicke aus, und es ist ein guter Tauschhandel, von dem beide profitieren. Synchron nippen sie am Tee, den er nachgeschenkt hat.
Als er noch einmal seine Rolle in jener Nacht ansprechen will, schneidet sie ihm das Wort ab.
„Lass gut sein, Guido. Das wäre ja das Schönste, wenn du dir irgendwelche Vorwürfe machen würdest. Eine ganz neue Variante, sich als Homosexueller deshalb schuldig zu fühlen, weil man als Hetero die Frau vor einem potenziellen Vergewaltiger bewahren hätte können, indem man sie selbst abschleppt.“
„Aber wie geht es jetzt weiter?“
Sie zuckt mit den Achseln. Er beugt sich zu ihr hinüber, ergreift ihre Hände.
„Was würdest du davon halten, Sigrid, wenn wir versuchen, konkret etwas zu verändern?“
Sie schlägt ungläubig die Augen auf. „Du denkst, ich brauche eine Therapie?“
„Nein“, sagt er, „ich denke an Prävention. Wir sollten uns wirklich mehr um unseren lieben Chef kümmern – in dem Sinn, wie es die Briefschreiberin ausdrückte: um wenigstens künftige Demütigungen von Frauen in diesem Haus zu verhindern.“
„Aber hast du nicht selbst gemeint, dass das ein Ding der Unmöglichkeit sei?“
„Die Situation hat sich grundlegend geändert. Erstens, weil das Problem mit der Anonymität weggefallen ist, und zweitens, weil diejenige, an der er sich vergriffen hat, eine liebe und äußerst glaubwürdige Kollegin ist …“
„ … die nichts beweisen kann!“
Guido runzelt nur kurz die Stirn. „Fehlende Sachbeweise lassen sich auch durch verlässliche Zeugenaussagen ersetzen.“
„Ich verstehe nicht …“
Guido steht die Entschlossenheit ins Gesicht geschrieben. „Bist du bereit, Sigrid …“
Ja, denkt sie. Herrgott noch einmal, ja, das wäre ich, Guido …
„Bist du bereit, dich zu outen, wie man so schön scheußlich sagt? Vorausgesetzt, der Rahmen stimmt?“
Er sieht das dicke Fragezeichen in ihren Augen und wird ausführlicher.
„Also, normalerweise sprechen wir von einem therapeutischen Vertrag, wenn wir mit unseren Klienten Vereinbarungen treffen. Wie wäre es, wenn wir ausnahmsweise einmal einen Pakt unter uns Therapeuten schließen? Du und ich, und vielleicht noch zusammen mit dem einen oder der anderen unseres Vertrauens. Was würdest du zum Beispiel von Selzer halten?“
„Wie kommst du auf den? Ist er nicht ein Freund von Sachs?“
„Das denke ich nicht, absolut nicht! Schön, sie spielen manchmal Tennis miteinander, aber ich sehe das eher als ein Stillhalteabkommen denn als Freundschaft. Du musst wissen, dass Selzer den Job des Chefarztes angestrebt hat, bis er ihm durch Sachs vor der Nase weggeschnappt wurde. P&P – Politik und Postenschacher, wie gehabt.“
„Aber wozu willst du ihn einweihen?“
Guido reckt den Zeigefinger in die Höhe, eine Gebärde, die überhaupt nicht zu ihm passt. Oder vielleicht passt sie doch in dieser verschwörerisch gefärbten Stunde, wo er das Kommando so überzeugend an sich gerissen hat?
„Du hast in deinem Brief geschrieben, dass du mit deiner Erfahrung nicht alleine dastehst. Wie hast du das gemeint?“
„Es gab da gewisse Gerüchte, nicht mehr.“
„In der Tat, das habe auch ich gehört. Und was glaubst du, von wem? Aus dem Mund von – Selzer. Nachdem er allerdings kurz darauf selbst eine Verleumdung durch eine Expatientin am Hals hatte und Sachs ihm prompt einen Persilschein ausstellte, war davon nichts mehr zu hören.“
„Du meinst …“
„Ja, ich meine, dass
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