Duenne Haut - Kriminalroman
pflegen zumindest seine Augen zu lächeln. Der ideale Therapeut, so hat sie ihn von Anfang an eingeschätzt – allein schon seine körperliche Ausstrahlung wirkt beruhigend, weckt Vertrauen.
Was liegt an, Guido? Wann willst du endlich damit herausrücken?
Aber er hält den Schwebezustand eine ganze Weile lang aufrecht. Löst schließlich den Blickkontakt, erhebt sich und schreitet zum Schreibtisch hinüber. Kramt in einer Lade. Mit einer Karte in der Hand kehrt er zur Sitzecke zurück. Legt die Karte neben sich, rückt sie zurecht, als müsse sie in einem bestimmten Winkel zur Klavierkante liegen. Greift nach der Teekanne und schenkt langsam ein. In der Luft das Aroma von Kardamom und Zimt, vielleicht auch ein Hauch von Minze. Sigrid führt den dampfenden Tee zum Mund, ihre Hand zittert.
Vor ihm auf dem Rumpfklavier liegt die Ansichtskarte mit dem wenig originellen Motiv.
„Wie geht es dir eigentlich mit Marie Therese Herbst?“, fragt er übergangslos. „Sie ist ja immer noch in deiner Kunsttherapiegruppe, oder?“
„Ja. Zuletzt heute Vormittag. Und – du wirst es nicht glauben – erstmals hat sie mich nicht angepöbelt. Vielleicht finde ich ja doch noch einen Zugang zu ihr.“
„Was war heute anders als sonst?“
Wieso interessiert ihn das, fragt sie sich, und wozu gibt es Teamsitzungen? Mein Konflikt mit dieser Frau wird ja kaum der Grund sein, dass er mich in sein Allerheiligstes eingeladen hat. Aber andererseits hat sie nichts dagegen, sich mit ihm über ihre neue Lage auszutauschen.
„Unglaublich war schon, dass sie erstmals pünktlich in die Gruppe kam. Sie machte sich sofort wieder an ihrer großen Tonskulptur zu schaffen, in die sie ganz vernarrt ist. Ich habe ihre Arbeit ausdrücklich gelobt. Bisher hatte sie auf jede meiner Äußerungen abwertend reagiert. Aber heute konnte sie annehmen, was ich über Golema sagte: dass sie mir nämlich sehr lebendig und gleichzeitig in sich ruhend erscheine und viel von ihrer Kreativität spiegle. ‚Ja, ich wachse mit ihr‘, gab sie zur Antwort. Und – du wirst es nicht glauben – sie dankte mir sogar dafür, dass ich ihr beigebracht habe, mit dem Material umzugehen. Ich war ziemlich verblüfft, wie du dir vorstellen kannst.“
Weiter!, signalisieren seine unter dem Kinn verschränkten Finger.
„Na ja, sie hat von sich aus erzählt, dass sie gestern eine Erfahrung gemacht hat, die sie schon seit Ewigkeiten, wie sie sagte, nicht mehr hatte: dass ihr ein Mann den Arm um die Schulter gelegt hat. Wie ein Erzfreund, in ihren Worten.“
„Ein anderer Patient?“
„Ja. Ein gewisser Hagen. Laut Margot klassisches Burnout. Trotzdem, in Marie Therese scheint er etwas entzündet zu haben. Sie hat von ihm geschwärmt wie ein Teenager und mich gefragt, ob ich etwas über ihn wisse. Ich habe ihr erklärt, dass ich über andere Patienten nicht auskunftsberechtigt sei und diesen Vorarlberger Polizisten im Übrigen auch nicht näher kenne. Da hat sie einen Moment gestutzt, und damit war das Thema abgehakt. – Aber wieso reden wir eigentlich darüber, Guido? Hast du mich deshalb eingeladen?“
„Vielleicht“, antwortet er und reibt sich das Kinn. Er schiebt ihr die Karte hinüber. „Sieh dir doch das einmal an, bitte.“
Sie nimmt die Karte zögernd entgegen, hält sie lange unter ihre Nase. So, als würde sie sie aufmerksam studieren.
„Ich habe sie vor zwei Tagen per Post gekriegt. Anonym in einem Kuvert. Seither frage ich mich, wie ich damit umgehen soll.“
„Und warum“ – sie versucht ihrer Stimme Festigkeit zu verleihen – „warum zeigst du sie ausgerechnet mir?“
„Eine kleine Fallbesprechung unter Kollegen“, murmelt er, „das ist es, was ich mir von dir erhoffe. Du hast ja gelesen, was da, abgesehen von den Anschuldigungen gegenüber Sachs, auch über mich drin steht. Dass ich – Zitat –
gänzlich unverdächtig bin, was Frauen anbelangt
. Du verstehst, dass ich mich schon deshalb damit nicht gleich an die Ethikkommission wende – falls das überhaupt der richtige Weg wäre. Aber zu dir habe ich Vertrauen, Sigrid. Ich dachte, du könntest mir helfen zu überlegen, wie ich damit umgehen soll. Vielleicht haben wir ja mit derselben Person ein Problem, du und ich?“
Vertrauen … Hilfe … Und das ausgerechnet von ihr! Sie sieht die Not in seinen Augen und kommt sich beschissen vor, blöde und gemein. Ihr Blick zappt durchs Zimmer: vom Bücherregal zum Schreibtisch, weiter zum rot gerahmten Gemälde eines verdrehten, an Schiele
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